Die unsichtbare Handschrift
Euch nicht schmecken.«
»Ihr könnt Euch auf mich verlassen«, stieß Reinhardt erschrocken aus.
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Lübeck, 11 . April 1226 – Esther
M ann in de Tünn, so wird das nie etwas«, schimpfte Esther vor sich hin. Seit einem Tag und einer Nacht hatte sie eine Rezeptur nach der anderen ausprobiert. Mal war die Tinte nicht einmal ein ganz klein wenig verblasst, dann hatte sie schon angenommen, endlich auf dem richtigen Weg zu sein, doch gänzlich verschwunden war die Schrift wieder nicht. Und nun wurde das Pergament an der Stelle ganz dünn, an der sie zuletzt den frisch angemischten Sud aufgetragen hatte. Vielleicht war die Säure im Wein zu stark, überlegte sie. Obwohl die Fensterläden geöffnet waren, hing ein beißender Geruch in der kleinen Schreiberwerkstatt, der an Erbrochenes erinnerte. Esther hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr wahrnahm. Ihre Augen brannten, doch das schob sie der Erschöpfung zu. Sie war so müde, dass sie sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte, aber sie hatte keine Zeit, sich auszuruhen. Morgen musste die Tinte fertig sein, die auf den ersten Blick wie beste Eisen-Gallus-Tinte erschien, sich dann aber nach wenigen Atemzügen auflöste. Vitus würde sie irgendwie zu Marold schaffen. Wie er das anstellen wollte, wusste sie nicht. Es wäre nicht gut, wenn sie alle Einzelheiten des Plans kennen würde, hatte Vitus sehr bestimmt erklärt. Jeder hatte seine Aufgabe, jeder trug einen Teil des Risikos. So hatten sie es ausgemacht, nachdem sie alles wieder und wieder durchdacht, verworfen und doch wieder aufgegriffen hatten. Sie hatten sich an ihrem gemeinsamen Abend, als Kaspar in der Schenke gewesen war, in Rage geredet, hatten sich alles so schön ausgemalt, dass sie am Ende beschlossen hatten, den kühnen Plan wahrlich in Angriff zu nehmen. Dann waren die Zweifel gekommen, später die Angst. Von ihrem Vorhaben lassen konnten sie dennoch nicht.
»Guten Morgen, Mädchen. Du meine Güte, es stinkt bestialisch hier. Du willst uns wohl vergiften.« Otto stöhnte. Er sah an diesem Morgen noch krummer aus als gewöhnlich.
»Entschuldige, ich muss nur Tinte kochen.«
»Das musst du hin und wieder, und trotzdem stinkt es dann nicht immer, als hätte eine Katze in die Ecke gepisst. Verwendest du andere Zutaten als sonst?« Er kam neugierig zur Feuerstelle herüber, die Hände in den Rücken gestützt. Er hatte Schmerzen, das war nicht zu übersehen.
»Vielleicht war der Wein nicht in Ordnung«, sagte sie ausweichend. »Geht es dir nicht gut, Otto?«
»Nein, Mädchen, mein Rücken wird von Tag zu Tag schlechter. Hätte ich zu Hause nicht so ein greuliches Weib, ich hätte mich längst zur Ruhe gesetzt.« Er stützte sich auf ein Pult und versuchte den kleinen Körper gerade aufzurichten. »Weib hin oder her«, sagte er ächzend, »lange mache ich das nicht mehr mit. Ihr werdet bald einen anderen für das Skriptorium suchen müssen.«
Sie ging zu ihm und strich ihm sanft über das gebeugte Kreuz. »Ich könnte mir keinen anderen vorstellen. Du gehörst doch hierher, Otto.« Betrübt dachte sie, dass sie sich wohl oder übel mit dem Gedanken vertraut machen musste, ohne den alten Schreiber und irgendwann auch ohne Reinhardt auskommen zu müssen. Die beiden waren deutlich älter als Kaspar. Sie hatte immer gewusst, dass irgendwann die Zeit für sie gekommen war, nur hatte sie diesen Gedanken stets weit von sich geschoben. Immerhin waren die beiden Schreiber nicht nur Kaspars Partner, sondern auch so etwas wie ihre Familie.
»Hast du es schon mit einem Heilpflaster aus Ziegenmist, Honig und Rosmarin probiert? Ich kann dir eines auf dem Markt besorgen. Du wirst sehen, morgen fühlst du dich wieder wie ein junger Bursche.« Sie wollte ihm so gerne helfen, hoffte, dass er noch lange Tag für Tag in die Schreibstube kam. Andererseits wünschte sie sich, er möge ihr Angebot ablehnen. Wenn sie jetzt auch noch auf den Markt laufen und ihm die Arznei besorgen musste, dann wurde sie unter Umständen nicht rechtzeitig fertig.
»Solange ich in Bewegung bin, geht es mir am besten, Mädchen. Ich gehe wieder. Hier hält man es heute ohnehin kaum aus. Ich werde so lange herumlaufen, bis ich ermattet auf mein Lager fallen und schlafen kann. Bei der Gelegenheit statte ich dem Quacksalber selbst einen Besuch ab. Mal sehen, welche Mittelchen er mir andrehen will.«
Nicht lange nachdem Otto gegangen war, tauchte Reinhardt auf. Ausgerechnet. Esther hatte gehofft, dass er
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