Die unsichtbare Handschrift
den ganzen Tag auf der Rathausbaustelle zubringen würde und sie ungestört mit ihrer Tinte experimentieren konnte.
»Puh, welch übler Geruch!« Er rümpfte die Nase. »Du hast gestern schon den ganzen Tag Tinte gemacht. Was ist los, Esther, willst du ganz Lübeck damit einfärben?«
»Aber nein.« Sie seufzte. »Ich weiß ja auch nicht, was auf einmal los ist. Die Tinte will mir nicht so gelingen, wie ich es im Sinn habe.« Das war nicht einmal gelogen.
»Du kochst Tinte, seit du ein kleines Mädchen bist. Du kennst dich mit Schlehenzweigen und Eichenblättern, mit Lösungs- und Bindemitteln ebenso gut aus wie Otto und ich. Da willst du mir weismachen, dass dir die Tinte nicht gelingt?« Er zog die linke Augenbraue nach oben, was ihn ulkig aussehen ließ. Nur war Esther leider nicht nach Lachen zumute. Sie hatte schon kaum noch Gefäße übrig, die sie mit Tintenmischungen befüllen konnte. Die letzte würde sie mit weiterem Gallenauszug verdünnen müssen, damit sie das Papier nicht beschädigte, aber würde die Schrift dann nicht kräftig und vor allem haltbar bleiben? Sie dachte angestrengt darüber nach, welche Ingredienzen sie noch ausprobieren konnte. Da fiel ihr Blick auf die irdene Schale mit den Galläpfeln. Es waren nur noch drei. Jetzt entsann sie sich wieder, dass ihr der schwindende Vorrat schon Sorge bereitet hatte, als sie irgendwann in der Nacht einige der kleinen Kugeln aus der Schale genommen und zerschlagen hatte. »Esther?« Sie erschrak. Reinhardt hatte sie anscheinend die ganze Zeit angesehen und auf eine Antwort gewartet. Bloß wusste sie nichts zu sagen.
»Wie steht es mit deinem Vorrat an Gallen und an rostigem Eisen oder Kupfer?«, wollte sie stattdessen von ihm wissen.
»Aus dir soll einer schlau werden.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe von beidem noch. Warum fragst du?«
»Weil mir allmählich die Gallen ausgehen«, gab sie zerknirscht zu. »Aber rostige Nägel habe ich im Überfluss. Lass uns einen Tausch machen.«
»Das wäre ein schlechter Tausch für mich.«
»Warum? Eine Zutat gegen die andere. Was soll daran schlecht sein?«
»Was führst du im Schilde, Esther? Dein Bruder wäre töricht genug, Galläpfel und Nägel als gleichwertige Zutaten zu sehen, du aber bist es nicht. Du weißt, dass Kupfer und Eisen das ganze Jahr über zu haben sind. Auf neue Gallen dagegen müssen wir bis zum Herbst warten. Das ist eine lange Zeit, und man muss sich gut einteilen, was man hat.«
Er hatte recht, und sie schämte sich, dass sie ihm einen solchen Handel angeboten hatte. Andererseits benötigte man die Wucherungen, die auch als Eichäpfel bekannt waren, nur selten. Mit den verschiedensten Arten von Dornen oder auch mit Eichenrinde ließ sich vortrefflich Tinte herstellen, was die meisten Schreiber auch überwiegend taten. Sie musste ihm mehr bieten, um den Handel für ihn profitabel zu machen. Nur was?
»Wozu braucht Kaspar unbedingt Eisen-Gallus-Tinte in großer Menge?«
»Das kann ich nicht sagen«, stammelte sie. Sie fand es schrecklich, ihn hinters Licht zu führen.
»Du kannst mir alles sagen, Esther. Du kennst mich nahezu dein gesamtes Leben.« Er lächelte sie freundlich an, seine Stimme war sanft. »Sieh dich nur an, deine Augen sind gerötet, und die Schatten darunter können einen das Fürchten lehren. Wüsste ich es nicht besser, ich würde glauben, du bist seit gestern noch nicht zu Hause gewesen.«
»Das bin ich auch nicht«, gab sie leise zu und ließ den Kopf hängen.
Er trat einen Schritt näher. »Das gefällt mir nicht, das gefällt mir gar nicht, Esther.« Er legte ihr einen Finger unter das Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Steckt Kaspar etwa in Schwierigkeiten?«
»Aber nein!«
»Was ist es dann?« Er blickte sie voller Sorge an.
Weil sie die Wahrheit doch unmöglich aussprechen konnte, fragte sie: »Gibst du mir ein paar Gallen, Reinhardt?«
Wieder schüttelte er den Kopf. Er ging zu dem Regal, auf dem seine Tinten, seine Farbpigmente und auch Gummi arabicum und andere Ingredienzen standen. Aus einem tönernen Behältnis ließ er eine gute Zahl der von Esther so begehrten Kügelchen in seine Hand rollen. Er kam zu ihr zurück und streckte ihr die Hand entgegen. Die Kugeln darauf kullerten aneinander.
»Danke!« Sie wollte nach dem kostbaren Material greifen, doch blitzschnell schlossen sich seine Finger darum.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Esther. Du siehst aus wie das Leiden unseres Herrn und verhältst dich äußerst merkwürdig, gelinde
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