Die unsichtbare Handschrift
konnte. Oder sie musste einen Teil der Wahrheit für sich behalten, was ihr wiederum nicht behagte. Doch schien ihr das der bessere Weg zu sein.
»Natürlich nicht. Kaspar muss das übernehmen.«
»Sagtest du nicht eben noch, er stecke nicht in der Sache drin?«
»Ja, das sagte ich. Und es ist auch wahr.« Sie blickte nun ebenfalls hastig zum Fenster und wieder zu ihm, wurde immer nervöser und begann zu schwitzen. »Du kennst ihn doch, Argwohn gehört nicht zu seinen ersten Eigenschaften. Und er ist manches Mal ein wenig begriffsstutzig. Ich habe ihn ein kleines bisschen angeschwindelt, damit er nicht glaubt, er müsse etwas Unrechtes tun. Er weiß nur, dass Vitus und ich bald heiraten können, wenn er das Schreiben so hinbekommt, als würde es von Marold selbst stammen, und es erst mit dem Siegel des Kaisers bestätigt ist. Das heißt für ihn, ein anderer ernährt mich. Mehr braucht er nicht zu wissen, um sich beflügelt an die Arbeit zu machen und eifrig die Schrift des Domherrn zu üben.« Sie lächelte bemüht. Reinhardt schaute skeptisch drein, und so fuhr sie rasch fort: »Ich bitte dich, auch Kaspar gegenüber kein Wort zu erwähnen. Kann sein, dass er etwas ahnt, dass er spürt, dass ich ihm nur die halbe Wahrheit sage. Sprichst du ihn darauf an, kann er sich nicht länger in seiner Unwissenheit einrichten.«
Er nickte langsam. In seinem Kopf arbeitete es. Es hatte den Anschein, als ob er darüber nachdachte, was er mit dem Gehörten anfangen konnte. Gewiss kämpfte er mit sich, ob er ihr die Geschichte noch ausreden oder ob er ihr gar seine Hilfe anbieten sollte, nahm sie an. Er tat nichts dergleichen.
»Das ist kein Kinderspiel, Esther«, sagte er mit finsterer Miene. »Was der Rat der Stadt vorhat, ist nicht ungehörig. Wenn aber ein Einzelner sich erdreistet, sich in derartig bedeutende Angelegenheiten einzumischen, dann ist das etwas ganz anderes.« Wieder blickte er zum Fenster, dann trat er einen Schritt auf sie zu und packte sie an den Schultern. »Nimm dich bloß in Acht. Mächtige Kräfte sind in diese Sache verwickelt«, raunte er. Der Druck seiner Hände verstärkte sich, seine Finger bohrten sich in ihr Fleisch. »Ich verstehe dein Motiv, aber ich fürchte, du hast nicht den Weitblick und das Wissen, um eine Affäre dieser Größe zu begreifen und gänzlich zu durchschauen. Überlege dir gut, was du tust! Ein falscher Schritt, und du landest in des Teufels Küche.« Mit einem Mal ließ er sie los. »Nimm dir ein paar Galläpfel, wenn du sie noch brauchst«, sagte er, als er zu seinem Regal ging und sich zwei Federkiele, sein Messer zum Schärfen der Schreibgeräte, Tinte und eine Wachstafel mit Griffel nahm. »Ich habe an der Baustelle zu tun.«
Damit ließ er sie stehen. Als er das Skriptorium verlassen hatte, fiel ihr auf, dass er ihr nicht sein Wort gegeben hatte, Stillschweigen zu bewahren.
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Lübeck, 11 . April 1226 – Reinhardt
E r eilte hinunter zum Salzhafen. Den Kragen seines einfachen Mantels hatte er trotz der kräftigen Sonnenstrahlen hochgeschlagen. Das Leben spielte ihm in der letzten Zeit merkwürdig mit, ging es ihm durch den Kopf. Es hatte damit angefangen, dass sein Weib nicht mehr das Lager mit ihm teilen wollte. Nicht, dass sie unwillig wäre oder ihn barsch zurückstieß, nein, nur war ihr immer häufiger nicht wohl. Sie klagte über Schmerzen und Schwindel, war gereizt und schläfrig. Es war ihnen beiden rätselhaft, was mit ihr los war. Auch der Bader und eine weise Frau, die sein Weib aufgesucht hatte, vermochten sich keinen Reim zu machen. Und einen Medicus konnten sie sich nicht leisten. So fand er sich damit ab, neben seiner Arbeit am Rathaus auch die Aufgaben zu erledigen, die sonst seine Frau im Hause verrichtet hatte. Natürlich hätte er sie vor die Tür setzen und sich eine andere suchen können, wie es manch einer wohl getan hätte, doch sie war ein gutes Weib und schon seit über zwanzig Wintern seine Gefährtin. Er mochte sich nicht ausmalen, ohne ihr heiteres Wesen auskommen zu müssen. Außerdem war er zwar noch kein Greis, aber auch kein junger Bursche mehr. Es stand zu befürchten, dass ihn nur noch eine hässliche Vettel nehmen würde.
Er ging an der Trave entlang, auf der große Handelsschiffe schaukelten. Wie viel Salz, Tuch und Fisch wohl schon in ihren Bäuchen über das Meer geschippert war? Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, als müsste er mit jedem Schritt seine Gedanken ordnen. Nun ging es also schon einige Wochen so,
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