Die unsichtbare Handschrift
gesehen. Jedenfalls zieht Ihr eine Miene, als wäre es so.«
»Der Leibhaftige, ja, mit dem hatte ich wohl zu tun«, sagte er finster.
Esther erschrak.
»Wenn er sich nur hergetraut hätte, ich hätte gewusst, was ich mit ihm angestellt hätte. Aber er hat uns nur das geschickt, was von meiner Schwester noch übrig ist.« Er hatte leise gesprochen, als würde er mit sich selbst reden. Als er jetzt aufsah, glitzerten seine hellblauen Augen gefährlich. So hatte sie diesen freundlichen Mann noch nie gesehen.
»Was sagt Ihr da? Was ist mit Eurer Schwester?«
»Nichts, was ich Euch berichten könnte. Ihr seid viel zu zart für so was.«
»Wisst Ihr nicht mehr? Ich bin die Frau, die unerschrocken ungezogene Rotznasen aus dem Fluss fischt!« Sie hätte ihm so gerne ein Lächeln abgerungen, doch da war anscheinend nichts zu machen. »So schlimm?«, fragte sie, als sie seinen hasserfüllten Blick sah.
»Wir können von Glück sagen, wenn sie es überlebt. Doch was rede ich von Glück? Was soll dann aus ihr werden? Zu verheiraten ist sie gewiss nicht mehr. Wer will schon eine, die hinkt, nur noch ein Auge hat, dafür aber womöglich einen Bastard am Rockzipfel?«
Esther schlug das Kreuz. »Heilige Mutter Gottes! Kann ich helfen?«
Er sah sie böse an. »Wie wollt Ihr helfen? Wollt Ihr das zersplitterte Bein mit einem Federkiel richten?« Er ließ die Schultern hängen. Die Wut schlug mit einem Mal in pure Verzweiflung um, und mit dem Zorn schien auch das Leben aus seinem Körper zu weichen. Der sonst so stattliche Kerl war ein Bild des Jammers. Wie nur sollte sie ihn trösten?
»Sie ist doch noch ein Kind«, sagte er heiser und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. Doch Esther hatte die Träne erblickt, die sich ihren Weg gebahnt hatte.
»Ihr müsst einen Richter anrufen«, sagte sie. »Wenn Eurer Schwester so großes Unrecht getan wurde, dann muss der Schuldige zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Und wer wird der Tochter eines Müllers glauben, wenn ein Graf etwas gegen sie behauptet?«
»Ein Graf? Grundgütiger!« Dann war es aussichtslos. Warf ein Ritter einem Grafen etwas vor oder ein anderer Adliger gar, dann würde ein Richter entscheiden, wer die Wahrheit sprach und wer nicht. Aber ein armes Mädchen gegen einen einflussreichen Herrn höchsten Standes, da war das Urteil schon gefällt, bevor auch nur einer ein Wort gesagt hatte. »Das ist nicht gerecht«, flüsterte sie bestürzt. Ihre Fröhlichkeit war dahin. Mit einem Schlag spürte sie die Erschöpfung wieder in allen Gliedern.
»Hat Euch etwa jemand eingeredet, das Leben sei gerecht?« Seine Entrüstung brach sich wieder Bahn. »Wir sollen ihm auch noch dankbar sein, dass er sie mit einem Wagen nach Hause bringen ließ. Wäre seine Gemahlin nicht nach Lübeck gereist, er hätte Bille wahrscheinlich vor seine Tür geworfen und sich nicht darum geschert, was aus ihr wird. So aber hat man sie auf die offene Karre geschmissen zu den Kisten mit den Kleidern der erlauchten Gräfin. Es ist ein Wunder, dass der Schauenburger uns nicht noch einen Pfennig dafür abnehmen lässt, dass sie nicht hat laufen müssen.«
»Der Schauenburger? Ihr sprecht von Graf Adolf IV .?«
»Ich kenne keinen Zweiten, der so böse ist wie er. Ihr solltet Euch den Mund auswaschen, nachdem Ihr seinen Namen darin geführt habt.«
»Gott der Herr wird ihn bestrafen«, sagte sie zuversichtlich.
»Der Dreckskerl wird sich in der Hölle wie zu Hause fühlen. Sagt mir, welche Strafe ihn treffen könnte?«
»Er wird bestraft werden«, wiederholte sie eindringlich. Sie selbst würde dafür sorgen, indem sie ihm den Griff nach der Stadt Lübeck endgültig verwehrte. Das war gewiss etwas, das den Grafen treffen konnte. Hatten sie noch immer Zweifel geplagt, sich an der unsauberen Sache zu beteiligen, wusste sie nun mit letzter Sicherheit, dass sie das Richtige tat.
Nach der Begegnung mit Norwid war sie nicht, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte, zu Vitus gegangen, sondern nach Hause gelaufen. Sie hatte noch Brot backen und dann das Abendessen für Kaspar richten müssen. Auch warteten ein Wams und eine Hose ihres Bruders auf sie, die einige Tintenkleckse abbekommen hatten.
»Ich habe Otto getroffen«, berichtete Kaspar, als sie nach dem Mahl beisammensaßen. Noch war es draußen nicht nachtschwarz, aber die Luft, die in die kleine Stube strömte, war kalt. Also schloss Esther den Fensterladen und entzündete die Öllampe. »Er hat erzählt, dass er es im Skriptorium
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