Die unsichtbare Handschrift
nachzudenken, war sie nach drinnen geschlüpft. Sie wäre besser die Gasse bis zum Ende und dann in das Johannisquartier gelaufen. Sie hätte zu Vitus gehen und ihm sagen können, dass jemand ihr auf den Fersen war. Doch was dann? Am Ende zog sie Vitus nur wieder in die Sache hinein, von der er die Finger lassen wollte. Überhaupt, sie musste sich beruhigen. Wahrscheinlich bildete sie sich sowieso alles nur ein. Esther fasste sich ein Herz, öffnete die Haustür und trat hinaus. Sie konnte gerade noch sehen, wie ein großer Mann mit schwarzem Umhang, die Kapuze trotz des milden Wetters auf dem Kopf, die Gasse verließ. Sie schluckte. Es war also kein Trugbild, der Verfolger war Wirklichkeit gewesen. Wenn sie es auch noch so sehr wünschte, war sie doch nicht beherzt genug, ihm nachzurennen und ihn zu fragen, was er von ihr wollte. Stattdessen ging sie wieder hinein und zwang sich, gründlich nachzudenken.
Als Erstes lief sie die Stiege hinauf in ihre Kammer. Sie ließ die Tür offen, damit sie das Tageslicht, das durch ein Fenster im Flur hereinkam, ausnutzen konnte. Rasch holte sie das Pergament, Tinte und die Feder hervor. Die Passage, die den Lübecker Englandfahrern das Leben wenigstens wieder etwas erleichtern sollte, hatte sie bereits geschrieben. Sie überflog eilig jedes Wort. Als sie damit fertig und zufrieden war, griff sie nach der Wachstafel. Sie tauchte die Feder in die Tinte und schrieb:
»Wir verleihen ihnen ferner den Grund und Boden außerhalb von Travemünde, neben dem Hafen, wo man das Hafenzeichen hält …«
Esther verstand nichts von all diesen Dingen. Sie hätte nicht einmal zu sagen gewusst, ob die Zeilen von Felding oder vom Rat der Stadt Lübeck stammten. Oder standen sie tatsächlich so in der Urkunde, die Barbarossa einst ausgestellt hatte? Sie hatte keinen Schimmer. Es war ihr auch herzlich gleichgültig. Während sie den letzten Absatz übertrug und die Kammer erfüllt war vom Kratzen der Feder auf der ungegerbten Haut eines Kalbs, hoffte sie nur inständig, dass dieser Bogen Pergament morgen versiegelt und mitgenommen wurde und sie dann nie wieder etwas davon zu Ohren bekam.
Endlich war der letzte Federstrich gesetzt. Sie betrachtete ihr Werk. Wenn herauskam, was sie hier gerade getan hatte, konnte das ihr Todesurteil bedeuten. Ging aber alles gut aus und der Kaiser nahm die von ihr geschriebenen Worte als Vorbild für eine Urkunde, die Lübeck wichtige Privilegien zusicherte, dann hätte es Vitus in Zukunft wieder ein bisschen leichter, seinen Geschäften erfolgreich nachzugehen. Ob er ahnen würde, dass sie es war, die hinter der Passage steckte, wenn sich die Neuerung für die Englandfahrer erst einmal herumsprach? Ob er zu ihr kommen und ihr dafür danken würde? Für ihre Zukunft spielte das keine Rolle mehr, denn Vitus würde ihr trotzdem nicht verzeihen, dass sie sich von einem Fremden hatte unschicklich berühren lassen. Sie seufzte. Viel wichtiger war, dass dem Schauenburger demnächst gründlich seine Zukunft verbaut sein würde – jedenfalls im Hinblick auf seinen Appetit auf die Stadt Lübeck. Mit diesem Schriftstück, das hier vor ihr lag, hatte sie ihren Anteil daran. Vor gar nicht langer Zeit hatte sie sich um solche Dinge nicht gekümmert, wäre es ihr gleichgültig gewesen, ob der Schauenburger Stadtherr würde, doch jetzt, nachdem sie Bille gesehen hatte, war sie bereit, gegen ihn zu kämpfen. Ihr Herz klopfte vor Angst und vor Aufregung, und sie bedauerte sehr, dass sie diesen Moment mit niemandem teilen konnte.
Sie versteckte das Pergament wieder zwischen ihrer Wäsche und Feder und Tinte hinter einem losen Regalbrett. Dann nahm sie ihren Griffel zur Hand und strich damit mehrfach kräftig über die Wachstafel, bis die Buchstaben, die Felding in die weiche Masse geritzt hatte, vollständig verschwunden waren. Sie erschrak kurz, als ihr in den Sinn kam, der Kölner wolle vielleicht vergleichen, ob sie den Wortlaut auch exakt übertragen hatte. Doch dann beruhigte sie sich. Gewiss kannte er jedes Wort im Schlaf. Es war gefährlicher, die Vorlage im Hause zu behalten, die sie leicht in Teufels Küche bringen konnte. Wieder fiel ihr der Mann mit dem schwarzen Umhang ein. Was, wenn er etwas wusste? Felding hatte auch von ihrem Plan erfahren, eine Fälschung anzufertigen. Woher wusste er Bescheid? Und wenn er es wusste, war es dann nicht auch denkbar, dass der Mann auf der Gasse ebenso Kenntnis davon hatte? Wer noch alles? Der Stolz auf das Pergament, das
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