Die unsichtbare Handschrift
von einem, den man schon zuvor gekannt, mit dem man womöglich Geschäfte gemacht hat?«
»Nicht, wenn man ehrlich ist, nein. Nach allem, was du mir berichtet hast, scheint Ehrlichkeit nur nicht zu seinen ersten Eigenschaften zu zählen.«
»Das ist wahr«, gab sie zu. »Trotzdem, wir kennen Reinhardt schon so lange.«
»Ich kann es mir ja auch nicht vorstellen. Nur kann ich mir noch weniger eine andere Erklärung ausmalen. Wir müssen ihn fragen.«
»Nein, Kaspar, dazu haben wir keine Zeit. Wir müssen die Stadt verlassen, bevor es dunkel wird.«
»Auf keinen Fall verlassen wir die Stadt. Ich kenne diesen Müller nicht einmal. Wer weiß, ob wir ihm trauen können?«
»Ich gebe dir mein Wort darauf, dass wir das können. Ich sagte dir doch, dass er mir damals geholfen hat, den Petter aus der Trave zu fischen. Und er hat mir den Rat mit dem Hofbauern gegeben. Warum sollten wir ihm nicht trauen können?«
Sie konnte sehen, dass es in seinem Kopf gehörig arbeitete.
Nach einer Weile sagte er: »Also schön, wir werden Reinhardt morgen fragen, wenn alles überstanden ist. Ab jetzt musst du diese schreckliche Geschichte nicht mehr allein durchstehen. Ich habe dir das Leben gerettet, als du ein Baby warst. Und ich werde dich auch jetzt nicht im Stich lassen.«
Esther sprang auf und schlang ihm die Arme um den Hals. »Ach, du Guter, du ahnst nicht, wie erleichtert ich bin. Es war so schrecklich, dir nichts sagen zu können!«
»Du musst mir versprechen, dass du dich nie wieder auf solche riesigen Dummheiten einlässt.«
»Versprochen!« Sie vergrub ihren Hals an seiner Schulter.
»Auch nicht auf kleine Dummheiten, hörst du?«
Sie nickte und schmiegte sich an ihn.
»Und noch etwas. Wir werden nicht zu diesem Müller gehen. Wir gehen zu Vitus.«
»Was?« Sie fuhr hoch, als hätte ein Wildschwein sie in die Wade gebissen. »Auf keinen Fall!«
»Keine Widerrede, Esther, es wird so gemacht. Ich habe es mir gut überlegt. Erstens trägt Vitus auch Verantwortung dafür, dass du dich auf diese Sache eingelassen hast. Und zweitens liegt sein Haus nur zwei Gassen entfernt. Wir brauchen nicht die Stadt zu verlassen und uns die Füße wund zu laufen. Außerdem gibt es bei ihm leere Kammern, in denen wir bequem schlafen können. Du siehst, es ist die vernünftigste Lösung.«
»Aber ich will ihn nicht sehen«, protestierte sie.
»Doch, das willst du. Und das musst du. Ihr müsst miteinander reden, Esther. Es wird allerhöchste Zeit.«
Ihr Protest hatte ihr nichts genützt. Kaspar beharrte darauf, ab jetzt die Führung in dieser in höchstem Maße unangenehmen Sache zu übernehmen. Und der erste Schritt seines Plans hieß nun einmal, Vitus über den Stand der Dinge zu informieren und bei ihm Herberge für die Nacht zu finden.
Sie schlüpften aus dem Haus, blickten sich nach allen Seiten um, liefen die Gasse hinunter, bogen rechts ab und liefen die zweite Gasse rechts hinauf. Ein kurzer Weg. Esther erschien er dennoch wie eine ewige Wanderung. Immer wieder meinte sie Schritte zu hören oder einen Mann im schwarzen Gewand zu sehen. Dabei waren es nur Schatten. Nicht mehr lang, dann würde die Dunkelheit über Lübeck hereinbrechen. Dann wollte sie keinesfalls mehr mit der ebenso kostbaren wie gefährlichen Fracht unterwegs sein. Wenn sie sich hastig umsah, fuhr Kaspar zusammen. Trotzdem tat er so, als wäre er unerschrocken.
»Da war nichts«, sagte er mehr als einmal zu ihr. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin ja bei dir.« Sie fragte ihn nicht, was er gegen einen großgewachsenen Mann auszurichten gedachte, der bestimmt eine Waffe im Umhang versteckt trug. Obwohl sie dem Wiedersehen mit Vitus beklommen entgegenblickte, fiel ihr doch ein Stein vom Herzen, als sie das Kaufmannshaus in der Fleischhauerstraße unversehrt erreicht hatten.
»Guten Abend. Das nenne ich ungewöhnlichen Besuch zu ungewöhnlicher Stunde.« Vitus zog die Augenbrauen zusammen. Seine Haare hingen ihm kreuz und quer um das Gesicht. Esther meinte Wein gerochen zu haben, als er gesprochen hatte.
»Nenne es, wie immer du magst, nur lass uns eintreten«, drängte Kaspar und sah sich gehetzt um.
»Habt ihr etwas ausgefressen?«
»Bitte, können wir das im Haus besprechen?« Esther hatte das Gefühl, jeden Augenblick könnte jemand um die Ecke treten, die drei zusammen sehen und alle auf einen Schlag erledigen.
Vitus trat zur Seite. »Bitte.«
Als die Tür sich hinter ihnen schloss, atmete sie auf. Es war ihr sehr recht, dass Vitus
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