Die unsichtbare Handschrift
selbst Marold kaum als nicht von ihm geschrieben erkennen würde, wich einer Panik, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie konnte nicht in dieser Hütte bleiben. Unmöglich. Sie musste fort und alles aus dem Haus schaffen, was einem Eindringling einen Beweis in die Hände spielen konnte. Ein erster Einfall sagte ihr, es wäre klug, Tinte und Feder zurück in das Skriptorium zu bringen. Dann erkannte sie, dass damit nichts gewonnen wäre. Nein, ein Federkiel und ein Fässchen mit Tinte im Haus eines Schreibers, daran war nichts Verdächtiges. Es sei denn, man würde es in der Kammer der Schwester finden. Sie holte beides erneut hervor und trug es hinunter in die Stube. Gleich darauf rannte sie die Stufen wieder hinauf. Sie überlegte fieberhaft, ob es einen Ort gäbe, an dem das Pergament sicher zu verstecken war, aber ihr fiel keiner ein. Wenn wahrhaftig jemand Bescheid wusste, wenn er hier eindrang und ihre Sachen durchsuchte, dann wäre der Bogen zwischen der Wäsche bald entdeckt. Sie faltete die Hände auf dem Rücken und lief umher wie ein Tier im Pferch. Plötzlich jagte ein Geistesfunke durch ihren Kopf, der ihr auf Anhieb richtig erschien. Es gab einen Platz, wo sie diese Nacht verbringen konnte, wo sie niemand vermutete und das bedeutende Schriftstück sicher war – in der Mühle von Norwid und seinem Vater. Sie würde auf Kaspar warten und ihm erklären, dass sie fortmüsse. Gleich danach würde sie sich auf den Weg machen. Sie konnte einen mit Gewürzen versetzten Wein als Geschenk mitnehmen, der Bille gewiss guttat. Diese würde sich über den erneuten Besuch freuen, und Esther konnte sich notfalls zwischen den Mehlsäcken zur Ruhe legen, um keinen Platz zu beanspruchen. Das würden die Männer ihr sicher nicht verwehren. Sollte sie einfach so lange bleiben, bis es zu spät war, vor der Schließung der Stadttore Lübeck zu erreichen? Oder sollte sie gleich fragen, ob sie eine Nacht in der Mühle bleiben durfte? Schon bei ihrem letzten Besuch hatte sie sich höchst eigenartig aufgeführt. Was sollte Norwid nur von ihr denken, wenn sie nun mit diesem äußerst ungewöhnlichen Anliegen auftauchte?
Sie lief auf und ab, wusste nicht, was richtig und was falsch war. So ratsam ihr dieser Einfall im ersten Moment erschienen war, so zweifelhaft kam er ihr jetzt vor. Schwere Entscheidungen hatte sie in ihrem Leben nie treffen müssen. Dafür war Kaspar stets da gewesen, und irgendwann, so hatte sie gedacht, würde Vitus das für sie übernehmen. Nur war sie jetzt unglücklicherweise allein und musste entscheiden. Und es hing so unendlich viel davon ab, ob sie eine kluge Wahl traf oder nicht. Sie lief die Stiege hinab und spähte durch die Risse im Fensterladen. Da draußen war niemand zu sehen. Natürlich nicht. Er hätte schon direkt vor dem Fenster stehen müssen, wenn sie ihn durch diesen winzigen Spalt hätte sehen wollen. Den Laden zu öffnen oder vor die Tür zu treten, um die Gasse entlang blicken zu können, wagte sie nicht. Stattdessen blieb sie dort stehen, den Oberkörper vorgebeugt, das Gesäß nach hinten gestreckt und die Nase fest an das Holz gepresst. Da hörte sie zwei Schritte, quietschende Scharniere, und die Tür öffnete sich.
Sie fuhr herum. »Mann in de Tünn, du hättest mich beinahe umgebracht!«
Kaspar starrte sie an. »Weil ich nach Hause komme?«
»Nein, weil du dich angeschlichen hast.«
»Ich habe mich nicht … Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als wäre gerade vor mir der Leibhaftige hier gewesen.«
»Nein, niemand war hier«, sagte sie und ging eilig zur Feuerstelle hinüber. Kaspar war früh dran. Die Glocke hatte noch nicht einmal zur vierten Stunde geschlagen. Ihr blieb also noch genug Zeit, ihm sein Abendessen zu bereiten und dann aufzubrechen.
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und streckte die Beine aus. »Was für eine elende Schinderei! Du musst dich mit Vitus vertragen, hörst du? Er ist ein Kaufmann. Die verdienen ihr Geld leichter als wir Schreiber.« Er stöhnte und krümmte seinen Rücken einmal in die eine und gleich darauf in die andere Richtung.
»Du vergisst, dass er im Moment große Sorgen hat. Die Geschäfte gehen schlecht. So leicht, wie du meinst, hat er es bestimmt nicht. Außerdem spielt das keine Rolle mehr«, fügte sie leiser hinzu. »Er hat mir Lebewohl gesagt. Du hättest mich eben bei unserem Vater lassen und dein Glück in Lübeck allein versuchen sollen.«
»Dann wärst du tot, mausetot!«, rief er aus.
»Vielleicht besser, als dir
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