Die unsichtbare Pyramide
stand Trevir über ihm und blickte voll widersprüchlicher Gefühle auf Molog herab. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn mit dem Schwert der Wache niederzustrecken. Trevir kämpfte gegen die Versuchung an. Aluuin hatte ihn gelehrt, dass kein Mensch zur Gewalt greifen könne, ohne dadurch selbst Schaden zu erleiden. Was er den Wachen hatte antun müssen, belastete den jungen Hüter schon genug.
Der Herr des Schwarzen Heeres hatte einen wilden, dunklen Lockenschopf und ein breites, bartloses Gesicht. Sein Körper lag unter einer dünnen Decke. Sie konnte kaum verbergen, wie auffallend groß und von kräftiger Statur dieser Mensch war, der selbst im Schlaf noch eine brutale Autorität ausstrahlte. Trevir riss sich von dem Anblick des Schläfers los und ließ seine Augen durch das Zelt wandern. Er wurde schnell fündig.
Die Kiste stand am Fußende des Feldbettes.
Trevir kniete davor nieder und ließ seine Hände über das schwarze Behältnis gleiten. Es fühlte sich kalt an. Der Deckel war oben leicht nach außen gewölbt. Drei breite Eisenbänder verstärkten die Kiste zusätzlich, jedes gesichert durch ein mächtiges Vorhängeschloss.
Trevir stieß die Luft durch die Nase aus. Jetzt kam der vielleicht schwierigste Teil. Der Kasten musste mindestens so schwer sein wie er selbst. Das bedeutete, er konnte ihn immer nur über eine kurze Strecke versetzen: raus aus dem Zelt, von dort bestenfalls einen Speerwurf weiter und irgendwann durch den Wehrzaun hinaus in den Wald. Die leichtere Alternative wäre, nur den Inhalt mitzunehmen. Aber dazu war es erforderlich, ihn zu sehen – so funktionierte nun einmal das Versetzen.
Der Hüter des Gleichgewichts schloss die Augen. In den letzten Monaten hatte er immer wieder versucht, das Kunststück von Zennor Quoit zu wiederholen, durch Wände hindurchzusehen. Mit mäßigem Erfolg. So klar wie in der Nacht der dritten Welle, war es ihm nie wieder geglückt.
Auch jetzt sah Trevir nur verschwommene Umrisse. Offenbar lagerte in der Kiste ein ganzes Bündel von Röhren, anscheinend ähnlich beschaffen wie der von ihm in Zennor Quoit erbeutete Dokumentenhalter. Er kniff die Augen noch fester zusammen, strengte sich noch mehr an, um den Sinn des Empfängers durch nichts stören zu lassen. Und tatsächlich wurde der Nebel lichter. Die Zylinder waren nun mehr als eine Ahnung, sie bekamen Konturen. Trevir konzentrierte sich auf ein einzelnes Stück, öffnete die Hände – und schloss sie um den Dokumentenhalter.
Er lächelte. Nummer eins! Seine Lippen formten zwar die Worte, aber er wagte nicht sie auszusprechen. Gleich nahm er die zweite Silberröhre ins Visier. Auch diese ruhte bald in seiner Hand. So ging es weiter: Nummer drei, vier, fünf, sechs… Nach kurzer Zeit lag ein ganzer Stapel neben ihm und der Hüter machte sich allmählich Sorgen, wie er seine Beute abtransportieren sollte. Nur ein letzter Dokumentenhalter fehlte noch. Trevir lauschte auf Mologs Schnarchen. Es klang so gleichmäßig und durchdringend wie zuvor. Noch einmal konzentrierte er sich – und wurde unvermittelt von einer ziemlich gehässigen Stimme aufgeschreckt.
»Ich habe mir gedacht, dass du es bist.«
Der Ertappte fuhr hoch. Mologs Schnarchen erstarb. Am Zelteingang stand ein Schemen. Er hielt ein Schwert in der Hand. Allein der Umriss verriet, um wen es sich da handelte. »Wulf!«, keuchte Trevir.
Molog regte sich unruhig auf dem Lager.
Sein Zögling trat gelassen in das Zelt. Er klang amüsiert, als er fragte: »Du wusstest nicht, dass unsereiner es spüren kann, wenn die Kräfte des Triversums gelenkt werden, nicht wahr?«
»Was…? Ich habe nie…«
»Nie gefühlt, dass ich auch ein Empfänger bin? Mir ging es bis vor kurzem ebenso. Ich betrachte das übrigens als Kompliment. Mein Vater hat mich immer streng gemaßregelt, wenn ich mit meinen Gaben nur zum Vergnügen herumspielte; deshalb war ich gezwungen, den Gebrauch von Waffen zu erlernen. Während wir neulich miteinander gekämpft haben, konntest du also nichts bemerken, weil ich mein wahres Wesen vor dir verbarg. Mir hingegen wurde zum ersten Mal etwas bewusst, das ich anfangs nicht richtig einordnen konnte – ein Gefühl, als würde mir jemand einen Dorn unter der Haut hervorziehen. So plötzlich diese Wahrnehmung kam, so schnell war sie auch wieder verschwunden. Erst später wurde mir klar, dass unserem Kampf ein Hüter beigewohnt haben musste, jemand, der sich zwischen meinen Vater und mich drängen will. Ich bin nicht sofort auf dich
Weitere Kostenlose Bücher