Die unsichtbare Pyramide
verblasste das flüssige Licht. Francisco sah wieder sein eigenes waberndes Spiegelbild. Fassungslos riss er den Kopf zurück.
»Das gibt’s doch nicht! Was war das? Oder wer war das?« Das Gesicht in dem Becken war ihm so ähnlich gewesen wie das eines Zwillings. Aber warum hatte es ihn Topra genannt? Halt!, korrigierte er sich. Wenn der wässrige Bruder tatsächlich ebenso zu Selbstgesprächen neigte wie sein Alter Ego in der Wirklichkeit, dann hatte er nicht ihn, Francisco, sondern sich, Topra, gemeint. Das würde bedeuten, machte sich Francisco klar, er kannte den Namen des anderen. Ob es ihm gelingen würde, ihn noch einmal zu sehen?
Zaghaft trat er wieder an den flachen Beckenrand und blickte verstohlen ins Wasser. Der bange Blick, der ihm von dort entgegenkam, gehörte ihm selbst. Eher beiläufig registrierte er, dass er immer noch wie eine blaue Glühlampe leuchtete.
»Topra?«
Sein Ruf klang mehr als kläglich. Er musste an Bruder Pedros Ermahnungen denken: Die Wunderheilungen des Herrn empfingen nur jene, die unerschütterlich an ihn glaubten. Francisco räusperte sich, kniff die Augen zusammen, holte noch einmal tief Atem und blickte wieder in das Becken.
»Topra, wenn du mich hören kannst, dann antworte mir!«
Einige pochende Herzschläge lang geschah nichts. Aber dann verwandelte sich das Wasser wieder in flüssiges Licht. Francisco musste all seinen Mut zusammennehmen, um nicht vor der Erscheinung zu fliehen. Wieder veränderte sich sein Spiegelbild, erneut sank es auf den Grund des Bassins. Es sah irgendwie anders aus als beim ersten Mal, nicht ganz so wild. Auch die Frisur hatte sich wieder verändert. Doch erneut glich dieses Antlitz seinem eigenen, wie sich wohl nur Zwillinge ähneln können. Oder Drillinge?
»Ich heiße Trevir«, sagte in einem seltsamen englischen Dialekt das Gesicht, dem sogar die Narbe an der Wange nicht fehlte. Es gab sich alle Mühe, forsch zu klingen, aber trotzdem drohte ihm die Stimme zu versagen. Nach kurzem Räuspern hörte sie sich schon fester an. »Und wer bist du?«
Der Gefragte wollte die Gelegenheit nicht wieder sprachlos vorübergehen lassen, fasste sich ein Herz und stotterte: »Fr-… Francisco.«
Anders als zuvor begann das Wasser plötzlich zu gleißen, dass er kaum noch hinsehen konnte. Das Gesicht wurde von dem Licht regelrecht aufgesogen. Bevor es ganz überstrahlt werden konnte, rief es noch: »Nimm dich vor den Feinden in Acht, die das Gleichgewicht stören wollen. Und halte dich bereit bis zur nächsten Welle!« Dann war es verschwunden.
Wieder taumelte Francisco zurück. Es dauerte eine Weile, bis die tanzenden Sterne vor seinen Augen verschwanden. Als er seine Hände betrachtete, wurde ihm klar, wer ihn da geblendet hatte: Er selbst war es gewesen. Schnell ließ er die Arme sinken. Den Widerschein des eigenen Glanzes auf den Bodenplatten, an der Umfriedung sowie auf den Bäumen und Büschen konnte er mühelos ertragen.
Dafür hörte er wieder Stimmen.
Diesmal kamen sie eindeutig nicht aus dem plätschernden Wasser. »Da hat jemand deine Festbeleuchtung bemerkt«, flüsterte er und sah sich hektisch um.
Der aus dem umliegenden Terrain wie ausgestanzte Platz entpuppte sich unversehens als Falle: ringsum Mauern. Der einzige Fluchtweg war die Treppe, und daher lief Francisco so schnell er konnte hinauf. Oben angekommen wollte er sich gerade in die Büsche schlagen, als ihn eine nur allzu bekannte Stimme zurückhielt.
»Francisco! Warte! Ich bin’s.«
Er blickte den Weg entlang und konnte, vom eigenen Glanz illuminiert, seinen Bruder sehen. »Vicente! Ich dachte schon…«
»Ein anderer sei dir auf die Schliche gekommen? Noch nicht, aber auf der Straße draußen stehen Leute und reden aufgeregt miteinander. Sie haben die Feuerwehr gerufen, weil sie in den Bäumen ein ›blaues Flackern‹ gesehen haben wollen.« Der Archäologe war nun bei ihm und betrachtete seinen Bruder mit einer Mischung aus Vorsicht und Begeisterung.
»Woher wusstest du, wo du mich finden kannst?«
»Ich habe eins und eins zusammengezählt. Heute ist deine vierte Lebenswelle. Eigentlich dachte ich, wir könnten ihren Höhepunkt gemeinsam erleben.« Vicente machte Anstalten, Francisco zu berühren.
»Nicht!«, warnte der.
»Wieso? Ist das Strahlen denn gefährlich?«
»Manchmal schon.« Er deutete auf die Narbe über seinem Jochbein.
Vicente trat einen Schritt zurück und nickte. »Wie lange dauern diese, äh, Anfälle?«
Francisco runzelte die Stirn. »Ich
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