Die unsichtbare Pyramide
Mutlosigkeit ihn übermannen, als er vor sich plötzlich ein Licht ausmachte. Während er selbst sich im leichten Wellengang auf und ab bewegte, blieb dieses gelbe Flackern immer auf gleicher Höhe. Land! Der Gedanke erfüllte ihn mit neuer Kraft. Vermutlich war er vom Riesenfisch vor einer der Inseln ausgespuckt worden, die Jobax und seinem Schiff als Versteck hatten dienen sollen. Jedenfalls brannte dort ein Lagerfeuer. Topra begann zu kraulen.
Die Entfernung zum Ufer war weiter, als er zunächst angenommen hatte. Wäre er nicht ein so guter Schwimmer gewesen, hätte er es kaum geschafft. Völlig erschöpft kroch er in der flachen Brandung dem Strand entgegen. Er hatte zwar sechs oder mehr Gestalten am Lagerfeuer gesehen, aber nicht die Kraft gehabt, sie um Hilfe anzurufen. Noch halb besinnungslos spürte er, wie ihn kräftige Hände aus dem Wasser zogen, über den Strand schleppten und wenig später am Feuer niederlegten. Er sah alles verschwommen. Sein erster Versuch zu sprechen scheiterte in einem kläglichen Lallen. Obwohl er sich so lange im nassen Element aufgehalten hatte, empfand er einen riesigen Durst. Seine Retter schienen ihm das anzumerken, denn jemand hielt ihm einen Flaschenkürbis an die Lippen. Wie ein trockener Schwamm saugte Topra die Flüssigkeit in sich auf. Um sich herum sah er undeutlich vier oder fünf Gesichter.
»Nicht so gierig, junger Freund«, mahnte ihn eine raue, gleichwohl freundliche Stimme. Sie musste dem Mann gehören, dessen Arm ihn beim Aufrichten des Oberkörpers stützte. Topra wischte sich mit dem Unterarm über die Augen und konnte nun etwas klarer sehen. Sein Retter trug einen weißen Turban, hatte ein schmales Gesicht, olivfarbene Haut, Augen wie Kohlen, einen schwarzen Stoppelbart und einen ungewöhnlich großen Mund, in dem ein Schneidezahn fehlte. Dennoch brachte er damit ein recht passables Lächeln zustande.
»Wer sind Sie?«, fragte Topra. Seine Stimme klang wie ein Reibeisen.
»Mein Name ist Dalabad.«
Topra nahm noch einen Schluck Wasser, bevor er fragte: »Fischer?«
Dalabad grinste. »Nein, Pirat.«
Die Strandpiraten der Muschelinsel waren außerhalb ihrer Arbeitszeit keine besonders blutrünstige Gesellschaft. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt damit, Schiffe auf die nahen Korallenriffe zu locken und sie auszurauben, während die Mannschaft um ihr Leben ruderte. Nur hin und wieder, räumte Dalabad ein, sei es nötig, einen besonders ehrversessenen Kapitän ins Rettungsboot oder auf eine Planke zu setzen und ihn der Strömung anzuempfehlen. Er persönlich habe noch nie jemanden abgestochen oder ersäuft noch den Befehl dazu gegeben. Im Übrigen teile man sich die Beute mit den Einwohnern der Muschelinsel. Das Ganze sei so eine Art Zweckgemeinschaft: Die einen stellten ihren ruhigen Schlupfwinkel zur Verfügung und die anderen einen Teil ihrer Beute.
Als Topra berichtete, dass er vor einem baqatischen Kriegsschiff geflohen sei, stieg er im Ansehen der Freibeuter sogleich um mehrere Stufen. Und dann erzählte er die Geschichte von dem Fisch. Die Augen der Piraten wurden immer größer.
»Ich habe das bisher nur für Seemannsgarn gehalten. Könnte ein Walhai gewesen sein«, sagte Dalabad, der Anführer.
Ein anderer Pirat, der aussah wie ein Kugelfisch und sich zuvor als Eitan vorgestellt hatte, verkündete: »Der Junge ist ein Auserwählter!«
Mehrere Männer pflichteten ihm bei.
Auf Dalabads Vorschlag hin zog Topra sich die Tunika über den Kopf, um sie am Feuer zu trocknen. Als sie bereits auf einem Ast hing, wurde ihm siedend heiß bewusst, dass sein Feuermal für jedermann sichtbar war. Während er noch nach einer Möglichkeit suchte, das Zeichen zu verstecken, hörte er hinter sich die erstaunte Stimme eines der Männer.
»Er hat das Symbol des Großen Hauses auf dem Rücken!«
Im Nu herrschte helle Aufregung am Feuer. Topra wurde unsanft herumgeschoben, hin und her gedreht, jeder wollte sein Schulterblatt sehen.
»Er muss ein Spion sein, wenn er diese Tätowierung trägt«, sagte der Entdecker des Mals. Der Pirat war fast so winzig, dass er eine Granate aus einem Kanonenrohr hätte stehlen können.
»Ist das wahr?«, fragte Dalabad streng.
Topra antwortete: »Nein. Ich habe diesen Fleck von Geburt an. Ihr könnt ihn betasten, wenn Ihr wollt. Da ist keine Farbe unter der Haut, sondern es hebt sich im Gegenteil von ihr ab. Man nennt so etwas ein Feuermal.«
Der Anführer untersuchte die Schulter des jungen Mannes genauer und murmelte:
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