Die unsichtbare Pyramide
»Eine Narbenwulst ist es nicht. Ich habe selbst ein paar davon und weiß, wie die aussehen. Aber wie kommt diese merkwürdige Form zustande?«
»Der Junge ist ein Auserwählter!«, erinnerte der runde Eitan die Mithalunken an seine erste Einschätzung.
»Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«, fragte Dalabad wie ein Richter den Angeklagten.
Topra breitete die Hände aus. »Ich weiß nur, dass Pharao Isfet mich seit vielen Jahren jagt. Er schickt Spione und Kriegsschiffe aus, um meiner habhaft zu werden.«
»Weil er den Jungen fürchtet«, brummte Eitan. »Er ist ein Auserwählter.«
Die anderen murmelten zustimmend.
Dalabad nickte. »Die Vorsehung könnte dich dazu bestimmt haben, der Willkürherrschaft Isfets ein Ende zu machen. Das wäre ein Segen, nicht nur für Baqat, sondern für ganz Anx. Die meisten von uns hier sind früher Küstenfischer gewesen und haben durch Isfet ihren Broterwerb verloren. Baqats riesige Fischereiflotte macht selbst bei uns auf Lemur die Preise kaputt und seine Industrie liefert billiger, als es irgendein kleiner Händler auf unserer Heimatinsel oder dem Schwarzen Kontinent jemals könnte. Deshalb sind wir hierher gekommen und haben den einzigen Ausweg gewählt, der uns noch blieb.«
»Die Seeräuberei«, sagte Topra und nickte verstehend. Schiffe auf Riffe zu locken und sie dann auszurauben, kam ihm, dem Zögling eines Handelskapitäns, höchst unmoralisch vor. Dennoch fiel es ihm schwer, die Piraten zu verurteilen.
»Was ist dein Weg?«, erkundigte sich Dalabad nun.
Topras Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich fürchte, ich verstehe nicht…«
»Oh, entschuldige. Das ist eine Redensart hier bei uns. Ich möchte von dir wissen, wie du dir dein weiteres Leben vorstellst.«
Der Gefragte zuckte die Achseln. »Ich will nach Memphis zurück. Dort wurde ich geboren.« Und nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ich bin überzeugt, dass Gisa meine Mutter ist, aber ich muss es beweisen.«
»Die Blume vom Nil?«, sagte überrascht ein Pirat, dessen breites Gesicht so flach wie ein Brett war.
»Du kennst sie?«, staunte Topra.
»Unsere Frauen besingen ihre Schönheit in ihren Liedern.«
Dalabad versuchte die Bewunderungslaute seiner Kumpanen einzudämmen, indem er mit fester Stimme fragte: »Angenommen, du findest sie und sie ist tatsächlich deine Mutter – was dann?«
»Ich werde sie nach dem Geheimnis meines Feuermals fragen.«
»Gisa muss es nicht unbedingt kennen. Würdest du dich damit abfinden können?«
»Nein. Dann werde ich selbst herausfinden, was es damit auf sich hat.« Und weshalb ich immer wieder aufglühe wie ein Meteorit beim Eintritt in die Atmosphäre, fügte Topra in Gedanken hinzu.
Dalabad nickte zufrieden. »Ich bin kein Prophet, aber, bei allen Fischen des Meeres, ich verheiße dir, dein Weg wird dich zum Millionenjahrhaus führen. Das ist deine Bestimmung. Nicht ohne Grund wird man mit so einem Muttermal geboren.«
»Sag ich doch«, posaunte Eitan und klatschte sich auf den fetten Schenkel. »Der Junge ist ein Auserwählter!«
Es seien keine Umstände, hatte Dalabad beharrt. Ohnehin fuhren sie regelmäßig zum Festland hinüber. Topra hatte sich nicht besonders lange gewehrt, als ihm eine Passage zum Schwarzen Kontinent angeboten worden war. Nach nur zwei Tagen Aufenthalt hatte er die Muschelinsel wieder verlassen.
Die Schebeke der Piraten – ein Dreimaster mit geringem Tiefgang, der sich besonders gut für das Manövrieren in küstennahen Gewässern eignete – setzte ihn in der Nähe eines Dorfes ab. Dalabad und seine Leute statteten den »Auserwählten« sogar mit einem kleineren Geldbetrag aus, damit er nicht verhungere, bevor er die Suche nach seiner wahren Bestimmung überhaupt richtig begonnen habe. Der Abschied von den rauen, aber herzlichen Gesellen fiel Topra nicht leicht. Er spürte sehr genau, welche Hoffnungen sie in ihn setzten.
In dem Dorf mit dem zungenbrecherischen Namen Hosomogolobol befand sich eine Karawanenstation. Schon am Morgen nach seiner Ankunft hatte er Glück: Er durfte sich einer Reisegesellschaft anschließen, die nicht weniger als sechsunddreißig Köpfe zählte – zweiundzwanzig davon gehörten Kamelen. Mit dem Versprechen, sich um den Durst der Tiere zu kümmern, hatte sich Topra allerdings keinen Dienst erwiesen. Wenn die Handelskarawane an einem Brunnen Halt machte, war er oft stundenlang damit beschäftigt, Wasser heraufzuziehen. Sein eigenes »Wüstenschiff« – es hieß Golo – sah zwar aus
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