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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bestimmt schon einmal gehört hast.«
    Francisco wandte sich mit fragendem Blick seinem Bruder zu.
    Vicente lächelte. »Unser nächstes Ziel hieß früher Avalon.«
    Mrs Hazelwood’s B&B war ein hübsch anzusehendes hellblaues Haus im viktorianischen Stil, dessen Inneres nicht hielt, was sein Äußeres versprach. Es gab dort ein Bett und ein Frühstück, sonst nichts. Die Leute kämen ohnehin nicht nach Glastonbury, um sich in luxuriöser Atmosphäre verwöhnen zu lassen, erklärte Mrs Hazelwood, die weißhaarige Besitzerin der Pension, und fügte augenzwinkernd hinzu: »Alle wollen nur auf den Spuren des christlichen Königs Artus und seiner heidnischen Schwester Morgaine wandeln, um vom mystischen Hügel vielleicht doch noch einen Blick auf das versunkene Avalon zu erhaschen. Na, mir soll’s recht sein. Des einen Neugier ist des anderen fetter Ranzen.« Sie tätschelte liebevoll ihren auffallend runden Bauch – wäre sie nicht schon mindestens siebzig gewesen, hätte Francisco sie für schwanger gehalten.
    Als er gegen Abend das Haus verließ, verfolgte er keinerlei touristische Interessen. Seine innere Unruhe trieb ihn hinaus. Vicente lag bäuchlings auf dem Bett und brachte, wie meistens vor dem Abendessen, sein Reisetagebuch auf den neuesten Stand. Er nickte nur, als sein Bruder sich »auf einen kleinen Spaziergang« verabschiedete.
    Das Bed and Breakfast der Mrs Hazelwood lag am Ostrand des Ortszentrums. Francisco wanderte eine Weile ziellos durch die Straßen. Im Laufe der Fahrt nach Glastonbury war ihm die Ursache seiner Unrast klar geworden. Vicente hatte ja oft genug über die »Mechanik des Multiversums« doziert. Die drei Welten waren sich wieder nahe. Francisco konnte es spüren.
    Der Gedanke, erneut von diesem blauen Glühen heimgesucht zu werden, erschreckte ihn. Oder war es Scham, die er empfand? Jedenfalls sollte ihm niemand zusehen, falls er wieder wie eine Wunderkerze zu strahlen begann. Das Beste würde sein, sich ein Taxi zu nehmen und die Stadt zu verlassen. Francisco marschierte zügig durch eine schmale Gasse. Ein Stückchen voraus sah er eine stark befahrene Querstraße. Dort müsste sich ein Transportmittel finden lassen.
    Sein umherschweifender Blick wanderte durch eine offene Toreinfahrt. Hinter der Mauer sah er einen gepflasterten Platz, einen roten Rover vor einem netten Häuschen aus Feldsteinen.
    Und außerdem einen Baum.
    Von einem eisigen Schauer geschüttelt blieb Francisco stehen.
    Es war genauso wie auf dem Ring of Kerry, als er die Insel Skellig Michael gesehen hatte. Mit steifen Gliedern taumelte er durch die Einfahrt, um den Baum genauer zu betrachten. Es handelte sich um eine Linde, die uralt sein musste. In ihrem Stamm klaffte ein großes Loch. Überdies war sie zur Hälfte abgestorben.
    »Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«
    Francisco schreckte hoch. Er hatte gar nicht bemerkt, wie die rot lackierte Haustür geöffnet worden war. Aus einem beleuchteten Flur lächelte ihm eine alte Frau entgegen, klein, gebeugt, mit langem grauem Haar und auf einen Stock gestützt. Er hatte Mühe, seine Benommenheit abzuschütteln und das Lächeln zu erwidern. Auf den Baum deutend, fragte er in flüssigem Englisch: »Ich bin gerade hier vorbeispaziert und habe Ihre Linde gesehen. Was ist mit ihr passiert? Es war doch kein Blitz, oder?«
    Die Alte schüttelte den Kopf. »Nein, ein Unwetter hat sie nicht so zugerichtet. Ihre eine Hälfte verdorrte ganz von allein.«
    »Wie lange ist das her?«
    »Über achtzehn Jahre.« Die Alte lächelte vergnügt. »Sie werden sich jetzt bestimmt wundern, woher ich das so genau weiß, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, weil in jener Nacht der spanische General gestorben ist. Sie wissen schon…«
    »Franco?«
    »Genau der. Am nächsten Morgen fehlten auf der linken Seite meiner Linde sämtliche Blätter. Zuerst habe ich mir gesagt: Nun, es ist Herbst, Mathilda, da verlieren die Bäume eben ihre Blätter. Aber als er im nächsten Frühling rechts auszuschlagen begann, aber links so kahl blieb, wie Sie ihn da vor sich sehen, kam mir die Sache doch merkwürdig vor.«
    »Das ist sie allerdings«, entgegnete Francisco. Sein Rachen war wie ausgetrocknet. Er starrte wieder zu dem Baum hinauf.
    Aus dem Haus ertönte die Stimme einer jüngeren Frau. »Großmutter, wer ist denn da?«
    »Nur ein Tourist, der die Linde bestaunt«, rief sie zurück.
    »Dein Kräutertee wird kalt.«
    »Ich komme schon!« Sich wieder ihrem Besucher zuwendend, sagte die

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