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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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glücklich schätzen, denn ihm wird es beschieden sein, Entzweites zu vereinen und Verborgenes zu enthüllen, um die ›Wunden der Welt zu heilen.‹« Aluuin holte tief Luft und rief sich den unangenehmen Nachsatz des gelehrten Ordensgründers in den Sinn: »›Das Kind könnte aber auch an einem der anderen Angelpunkte des Triversums erscheinen.‹ – Warum muss er sich nur immer so unklar ausdrücken?«, zischte er. Obwohl es in Abacucks Angaben also durchaus Spielraum für unterschiedliche Deutungen gab, war Aluuin überzeugt, den richtigen Ort für seine Suche gewählt zu haben. Auch Molog hatte dem Kind hier nachgespürt, nicht einmal im Feenwald, was viel aussichtsreicher gewesen wäre, sondern – unübersehbar – im Dorf.
    Wieder ließ Aluuin seine Augen über das Trümmerfeld schweifen. Angesichts der Tragödie fiel es ihm schwer, nicht ganz in Selbstvorwürfen zu versinken. Wäre er nur etwas früher nach Annwn aufgebrochen! Einen einzigen Tag…!
    Der Alte horchte auf. Hatte er da eben ein Schnauben gehört, wie von einem Pferd? Als sein Blick dem Geräusch nachging, entdeckte er bei einem rauchenden Schutthaufen, der gestern noch ein Haus gewesen sein musste, ein Pferd. Der Braune war nicht besonders groß, aber ungemein kräftig. Wie hatte das wahrhaft schwer zu übersehende Tier das Gemetzel überleben können?
    Nun, da Aluuins Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung gelenkt worden war, machte er schon bald eine weitere Entdeckung. Über den armseligen Resten des Hauses, in dem ein schreckliches Feuer gewütet haben musste, schwebte gleichsam eine schwarze Kralle.
    »Was ist das?«, murmelte der Greis und sah genauer hin. Seine Hand griff unbewusst in den langen, grauen Vollbart und begann darin herumzuwühlen. Aluuin verwunderte weniger der Baum an sich, dem das Feuer schwer zugesetzt hatte – nur einige dickere Äste überragten noch wie verkohlte Gliedmaßen den Trümmerhaufen des Hauses –, sondern vielmehr die Art und Weise, wie diese alte Linde dem Angriff getrotzt hatte.
    Neue Zuversicht strömte in die klammen Glieder des Mannes in der grauen Kutte. Gestützt auf seinen knorrigen langen Stab, eilte er auf Pferd und Baum zu. Während er die rauchenden Trümmer der Hütte umrundete, schnaubte der massige Gaul erneut. Obwohl der Fremde dem Tier Angst einzuflößen schien, blieb es doch in der Nähe des Stammes, der seltsam im Sonnenlicht schimmerte. Mehrmals durchlief ein heftiges Zittern die Flanken des Pferdes und es starrte Aluuin durchdringend an. Jeden Moment schien es wie ein wütender Stier auf ihn losstürmen zu wollen.
    »Du möchtest etwas beschützen, nicht wahr?«, fragte er freundlich. Das Pferd glotzte ihn nur aus großen braunen Augen an und schnaubte abermals. Der Hüter legte, jede hastige Bewegung meidend, seinen Stab auf den Boden und näherte sich behutsam dem Bewacher der Linde. Dabei sprach er unablässig beruhigende Worte: »Du bist aber ein strammer Bursche. Wie ist dein Name? ›Lindenwächter‹ würde gut zu dir passen. Was bindet dich an diesen Baum?« So erreichte er schließlich das nervöse Ross, ohne es zu verscheuchen. Eine Weile lang tätschelte er ihm Hals und Kruppe.
    »Ich würde mir jetzt gerne deinen Schützling ansehen, Lindenwächter. Darf ich?«
    Die großen Augen des Hengstes blinzelten einmal.
    »War das ein Ja? Ich nehme es einfach mal an«, sagte Aluuin und wandte sich dem Baum zu. Im nächsten Moment verfiel er in ungläubiges Staunen.
    Was er aus der Ferne noch für eine Täuschung von Licht und Schatten gehalten hatte, entpuppte sich nun als wundersame Wirklichkeit: Nur jener Teil der Linde, der die Trümmer des Hauses überragte, war verkohlt. Irgendetwas hatte das Feuer schlagartig gelöscht, ehe es den ganzen Baum erfassen konnte. Und jetzt, aus nächster Nähe, erkannte Aluuin auch, was es gewesen war.
    Eis.
    »Unfassbar!«, hauchte er, obwohl er die dünne Schicht gefrorenen Wassers doch mit eigenen Augen sehen konnte. Zögernd näherte er sich einem tief hängenden Ast, berührte ihn, spürte die Kälte und fragte sich: Was um alles in der Welt konnte an einem warmen Herbsttag einen Baum in diesen frostigen Panzer eingeschlossen haben?
    Wie zur Antwort drang ein zarter Laut, der eindeutig nicht von dem Pferd kam, an Aluuins Ohr. Seine buschigen grauen Augenbrauen sprangen förmlich in die Höhe. Er lauschte. Alles war still… Nein, gerade hatte der Wind wieder einen Fetzen des leisen Geräuschs vorbeigetragen.
    Mit einem Mal war das

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