Die unsichtbare Pyramide
lag. Die beiden Orte waren gut zwölf Meilen voneinander entfernt. Die Hauptstadt von Baqat hatte sich aus kleinen Anfängen im Laufe der Jahrtausende zur mit Abstand größten Metropole der Welt entwickelt. Obwohl es noch einige unabhängige Staaten gab, die der gewaltigen Militärmacht des Pharaos trotzten, kannte Anx im Wesentlichen doch nur eine Kultur, nämlich die von Baqat. Die Weltwirtschaft wurde von einem Land kontrolliert: von Baqat. Und so gut wie alle Religionen leiteten sich – verfolgte man die Gottheiten und Kulte nur lange genug zurück – von Baqats Pantheon und seinen Riten ab. Jede Freiheit auf Anx, selbst die der Rebellenstaaten, beruhte auf einer raffinierten Illusion. Baqat war allgegenwärtig. Und manche behaupteten, sein Herrscher sei der einzig freie Bewohner von Anx – weil er allmächtig war.
Ibah-Ahiti kannte ihren Gemahl besser als alle anderen. Vor allem seine »kleinen Laster« waren ihr nur allzu gut vertraut. Der Pharao hatte viele Gespielinnen. Für die Konkubinen war sogar ein eigener Bezirk im Millionenjahrhaus, dem weitläufigen Palastareal, reserviert. Als Isfets Hauptfrau hatte sich Ibah-Ahiti bisher für unantastbar gehalten. Doch ihr äußerlicher Gleichmut war nur gute Miene zu bösem Spiel. Am liebsten hätte sie längst die gesamte Buhlenschar und ihre Bastarde in den Nil getrieben. Vor allem Gisa, »die schönste Blume in Pharaos Garten«, wie das Volk sie mal spöttisch, mal voller Bewunderung nannte, war ihr ein Dorn im Auge. Die Schlampe würde bald niederkommen. Einem kleinen Thronräuber wollte sie das Leben schenken. Ausgerechnet jetzt, wo sie, Ibah-Ahiti, selbst in den Wehen lag.
»Habt Ihr Gisa endlich gefunden?« Vor Schmerzen brachte Ibah-Ahiti die Worte nur stöhnend hervor. Die Kaiserin ruhte, von blauen Tüchern fast vollständig verhüllt, auf einem speziellen Gebärstuhl, bei dem ihre gespreizten Beine fast wie im Sitzen angewinkelt waren, wobei sie auf dem Rücken lag. Während das medizinische Personal ihre wie auch die Lebensfunktionen des ungeborenen Kindes überwachte, studierte sie die ernste Miene des Mannes am Kopfende ihres Foltergeräts – in Chirurgenkleidung und Kopfhaube war Pharao Isfets erster Leibwächter kaum wiederzuerkennen. Das Unbehagen auf dem Gesicht des Soldaten gefiel Ibah-Ahiti nicht. Sie hielt ihm zugute, dass wohl nur wenige Männer freudig an das Bett einer Gebärenden traten. Dieses »Geschäft« überließen sie ganz gerne den Frauen.
Waris war ein hoch gewachsener Baqater mit bronzefarbener Haut und einem schmalen Gesicht. Seine Hakennase und die eng beieinander stehenden stechenden schwarzen Augen verliehen ihm ein verschlagenes Aussehen. Er befehligte nun schon länger als alle seine Vorgänger die Leibwache des Pharaos – ein wahrer Überlebenskünstler und tüchtig noch dazu! Seine Ergebenheit gegenüber Ibah-Ahiti war jedoch aus mancherlei Gründen noch bedingungsloser. »Wir haben eine Spur, Herrin. Bald werden wir die Konkubine ergreifen«, antwortete er auf die Frage.
Ibah-Ahiti erwiderte gereizt: »Wozu hängt man den Leibeigenen die Halsbänder um, wenn sie nicht funktionieren?«
Die meisten Gespielinnen des Pharaos standen im komplizierten Klassensystem der baqatischen Gesellschaft zwar einige Stufen über den Sklaven, aber dennoch gehörten sie mit Haut und Haaren ihrem Gebieter. Äußeres Merkmal dafür war besagtes Halsband, das in der Behördensprache schlicht der »Bund« genannt wurde. Ein gewöhnlicher Bund bestand aus Edelstahl und konnte im Aussehen stark variieren: Manche hatten eine runde, andere eine ovale, wenige sogar eine eckige Form; oft war die Außenhülle glatt, sogar auf Hochglanz poliert, gelegentlich aber auch mattiert, graviert oder reich verziert. Die höfische Version ließ sich an dem dreieckigen Emblem des »Großen Hauses«, also des Pharaos, sowie an ihrer edlen Ausgestaltung erkennen. Bei ihr handelte es sich schon solange es die Bünde gab – seit immerhin fast zwei Dutzend Jahren – um einen Torques, das heißt, der Reif war vorne offen, ungefähr so dick wie der Finger einer zierlichen Frau und glich zwei umeinander geschlungenen Seilen aus poliertem Gold. Was da in der edelsten Variante sogar als Schmuckstück Bewunderung hervorrufen konnte, diente indes aufgrund seines ausgeklügelten Innenlebens alles andere als dekorativen Zwecken. Entfernte sich der Träger eines Sklavenrings ohne Genehmigung seines Gebieters, konnte er mithilfe eines weltweiten Satellitennetzes
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