Die unsichtbare Pyramide
sich mit dem Unterarm über den kahlen Kopf. »Dann geh zum Markt und kauf dir einen. Hier bekommst du ihn ganz sicher nicht.«
»Das wollen wir erst mal sehen. Ich möchte sofort Jobax sprechen.«
Sein Gesicht drückte Erstaunen aus. Er trat an die Reling und fragte: »Kennst du den Kapitän?«
Timsah lief ein paar Schritte den Kai hinab, um die Distanz zwischen sich und dem wortkargen Seemann zu verringern. Verschwörerisch raunte sie: »So könnte man sagen. Ich habe ihm eine Botschaft von seinem Sohn zu überbringen.«
Das Gesicht des Matrosen verfinsterte sich. »Unser Kapitän ist kinderlos.«
Sie beugte sich beängstigend weit auf das Wasser hinaus und flüsterte: »Wenn du seine leiblichen Nachkommen meinst, mag das stimmen, aber willst du ihn wirklich davon abhalten, Topra wiederzusehen?«
Der Pinsel rutschte dem Seemann aus der Hand und sein Unterkiefer fiel herab.
Weil er keine Anstalten machte, sich vom Fleck zu rühren, zischte Timsah: »Hast du mich verstanden oder muss ich es dir buchstabieren?«
Der Anstreicher erlangte seine Fassung zurück, ersparte sich indes die Antwort und rannte stattdessen zum Achterhaus hinüber, in dem er flugs verschwand.
Topra merkte sofort, dass mehr als eine Person die Stiege zur Dachkammer heraufkam. Er setzte sich auf die Bettkante und sah gespannt zur Tür. Was erwartete ihn? War sein Ziehvater noch am Leben? Oder hatte längst ein anderer das Kommando auf der Tanhir übernommen? Als die Tür aufflog, waren alle Zweifel zerstreut.
»Topra!«, stieß Jobax hervor und stürzte auf das Bett zu, um seinen Jungen zu umarmen.
Der brachte kein einziges Wort heraus. Also drückte er seinen Vater nur fest an sich und weinte hemmungslos.
Weil Timsah eine sehr gefühlsbetonte Seele war, schloss sie sich dem freudigen Schluchzen an. Mit eingezogenem Kopf stand sie unter dem niedrigen Türsturz und tränkte ihren Schürzenzipfel mit Tränen.
Geraume Zeit verging, bis sich die Emotionen so weit beruhigt hatten, dass die Fragen Oberwasser gewannen. Was war seit jenem Tag geschehen, als der Walhai Topra verschluckt hatte? Sowohl Vater als auch Sohn brannten darauf, voneinander alles zu erfahren. Timsah lud sie in ihre Küche im Erdgeschoss ein, die gleichzeitig ihr Wohnzimmer war.
Wenig später saßen sie auf weichen Kissen am Boden und balancierten mit spitzen Fingern silberne Teeglashalter durch die Luft.
Zuerst musste Topra berichten, was er in den mehr als vierhundert Tagen ihrer Trennung erlebt hatte. Dann erzählte Jobax, wie er der baqatischen Marine zwischen den Inselchen Lemurs entwischt war und auch später mehrmals vor ihr fliehen musste. Eines Tages – die Tanhir lag gerade in einer kleinen Bucht vor Anker – hatte sich von der offenen See plötzlich ein Kriegsschiff genähert. Jede Flucht schien aussichtslos. Aber da stellte sich heraus, dass die Fahndung nach Kapitän Jobax’ Dhau offenbar eingestellt worden war. Das Torpedoboot drehte unverrichteter Dinge ab.
»Da stand für mich fest, dass du nicht mehr lebst«, gab der blonde Seebär zu und seiner zitternden Stimme war anzumerken, wie sehr die Erinnerung an diesen Moment seine Gefühle aufwühlte.
»Du meinst, weil der Geheimdienst des Hofes keine Toten jagt? Hast du nie daran gedacht, dass sie mich auch gekriegt haben könnten?«
»Natürlich. Anfangs schon. Aber dann besuchte ich einen Mann, auf dessen Informationen ich mich immer hatte verlassen können; du weißt ja, dass ich viele Leute kenne, die mir hin und wieder ein paar nützliche Tipps geben. Auf die Weise erfuhr ich auch, was in der Straße von Lemur geschehen ist, nachdem das Torpedoboot uns hatte ziehen lassen. Es hieß, du seist von einem riesigen Seeungetüm verschluckt worden. Danach habe ich alle Hoffnung aufgegeben. Bis dann fast die ganze Mannschaft der Tanhir in einer Hafenspelunke vor der Glotze hing, um sich ein bisschen beim Affentheater zu vergnügen.«
Topra hob fragend die Augenbrauen.
»Die Hochzeit des Kronprinzen«, präzisierte Jobax und schüttelte den Kopf. »Mir sind fast die Augen aus dem Kopf gekullert, als ich da plötzlich dich sah, mein Lieber. Quietschfidel, in der Gardeuniform der kaiserlichen Leibwache, standest du da und hast Aabuwa eingeheizt. Ich dachte, ich spinne. Nachdem die Große Säulenhalle eingestürzt war und die staatliche Zensur wieder die Fernsehbilder kontrollierte, wurde behauptet, der psychopathische Attentäter – damit meinten sie dich – sei getötet worden. Aber diesmal
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