Die unsichtbare Pyramide
Erklärung zufolge habe das örtliche Nilometer ursprünglich außerhalb der Totenstadt gelegen, aber weil diese im Laufe vieler Dynastien bis zum Flussufer erweitert worden war, befand es sich nun mitten im heiligen Bezirk. Eine lange Röhre führe unterhalb des Wasserspiegels landeinwärts und münde schließlich in einem senkrechten Schacht. Er könne zwar versichern, dass immer noch Wasser in diesem brunnenähnlichen Loch stehe, hatte der Priester angemerkt, aber ob die Röhre für einen Mann durchgängig passierbar sei, das wisse er nicht.
Mithilfe eines Handsonars fand Hobnaj bald die Röhre. Topra musste gegen ein Gefühl der Beklemmung ankämpfen, als er dem Nubier in das schwarze Loch folgte, zu lebendig war noch die Erinnerung an den großen Fisch. Eine schleimige Reminiszenz bedeutete für ihn auch die dicke Schicht aus Schlick am Boden des Tunnels. Aber wenigstens war er nicht verstopft. Die Taucher kamen gut voran.
Immer wieder kontrollierte Topra das Manometer und den Tauchcomputer am Handgelenk. Der Luftvorrat schmolz dramatisch schnell zusammen. Nie zuvor hatte er unter Wasser die eigenen Atemgeräusche so laut empfunden. Jede Blase, die mit lärmendem Blubbern seinem Mundstück entwich, erschien ihm wie ein unwiederbringlicher Verlust. Plötzlich vibrierte der Computer. Noch Luft für drei Minuten!, brachte sich Topra in Erinnerung. Als er von seinem Multifunktionsgerät aufblickte, war Hobnaj aus dem Kegel der Handlampe verschwunden.
Topra erschrak. Ängstlich leuchtete er die umliegenden Wände ab. Dadurch erst bemerkte er das Ende der waagerechten Röhre. Über ihm erhob sich ein senkrechter Schacht. Rasch schaltete er das Licht aus.
Als er aus dem Wasser auftauchte, flüsterte ihm Hobnaj zu: »Da sind Vertiefungen in der Wand, wie der Priester gesagt hat. Daran können wir nach oben klettern. Zieh dein Zeug aus und lass es auf den Grund sinken.«
Sie halfen sich gegenseitig dabei, die Ausrüstung abzulegen. Topra stach ein paarmal mit dem Messer in die Tarierweste und drückte die Luft heraus. Das Gewicht des Bleigürtels und der Metallflasche zog dann alles in die Tiefe. Hobnaj verfuhr mit dem eigenen Jackett genauso. Anschließend kletterten sie die Schachtwand hinauf. Der Nubier zuerst. »Weil mein schwarzer Schädel im Dunkeln nicht so leuchtet«, hatte er erklärt.
Das Nilometer war mit einer Steinplatte abgedeckt, die Hobnaj mühelos hochstemmte und behutsam zur Seite schob. Er glitt aus der Öffnung, verschwand damit einige Augenblicke aus Topras Gesichtsfeld, um ihn gleich darauf nach oben zu winken.
Während sie in der Deckung großer Büsche ihre Kleidung aus den wasserdichten Beuteln zogen, ertönte aus der Ferne Kanonendonner. Der angekündigte Entlastungsangriff hatte bereits begonnen. Beide zogen sich die wadenlangen, traditionellen Priesterröcke aus weißem, teilweise plissiertem Stoff an. Dazu gehörte ein breites Gürtelband, dessen Enden sich nach unten auffalteten und bis über die Lenden hinabreichten. Ein Kopftuch mit Stirnband, ein breites Halsgespänge aus Golddraht sowie ein langer Umhang rundeten das priesterliche Habit ab und ließen nur einen Teil der Brust und die Bauchpartie frei. Topra hatte Bedenken geäußert, weil er diese Verkleidung, zumindest in Hobnajs Fall, nicht sehr überzeugend fand. Der hielt dagegen, dass seit Pharao Nehesi nubische Fürsten und Priester in Baqats Schaltstellen der Macht zwar nicht gerade die Regel, aber eine gar nicht so seltene Ausnahme waren.
Gemessenen Schrittes verließen sie das Versteck. Es gab einen direkten Verbindungsweg, der von der Anlegestelle der Totenstadt zur Großen Sphinx hinaufführte. Diesen mieden die beiden falschen Priester und wählten stattdessen eine mehr nördlich verlaufende Route. Vor Jahrtausenden hatten die Erbauer der Großen Pyramide dort Steine geschlagen, inzwischen war das ganze Gebiet jedoch mit unzähligen kleineren Grabmalen bedeckt, wodurch es den Namen Nekropole – Totenstadt – wahrhaft verdiente. Topra und Hobnaj schlichen durch Gassen, die zu beiden Seiten von winzigen Pyramiden, Miniaturmausoläen und Totentempelchen gesäumt waren.
»Das ist der Beamtendistrikt. Es heißt, die Mumien hier seien haltbarer als alle anderen«, flüsterte der Nubier.
»Wieso?«
»Weil nur die Beamten schon im Diesseits damit beginnen, ihre Körper zu konservieren.«
Topra stöhnte leise. »Mir ist wirklich nicht zum Scherzen zumute, Hobnaj!«
Rechter Hand ragte hinter den niedrigen Beamtengräbern
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