Die unsichtbare Pyramide
die gewaltige Cheopspyramide auf. Ihre helle Ummantelung schimmerte fahl im Licht des Halbmondes. Ab und zu konnte man nahe der Basis den Widerschein von Flammen sehen. Die Illumination gehöre zum Ritus der Opferung, merkte Hobnaj zähneknirschend an. Vor dem Haupteingang zum Tunnellabyrinth dürfte sich demnächst ein Spalier von mehreren Dutzend Priestern aufbauen, um die frischen Leichen in Empfang zu nehmen.
Topra schauderte. »Wie weit ist es noch bis zur Sphinx?«
»Wir sind gleich da. Da vorne am Ende der Gasse müssen wir ein freies Stück von ungefähr dreihundert Fuß überqueren. Dann haben wir’s geschafft.«
»Und wenn uns die Leibgardisten mit ihren Nachtsichtgeräten sehen?«
»Ich glaube, sie haben im Moment anderes zu tun als die Sphinx zu beobachten.«
Hinter dem Beamtendistrikt überquerten die beiden einen leicht abschüssigen Hang, der wenig Deckung bot. Während der Kanonendonner in der Stadt unvermindert anhielt, blieb im näheren Umkreis alles ruhig. Abgesehen von Topras Innenleben. Er spürte das Nahen der sechsten Welle und wurde zunehmend nervöser. Hoffentlich fing er nicht ausgerechnet jetzt damit an, wie ein Leuchtspurgeschoss zu glühen.
Zum Glück blieb er – vorerst jedenfalls – von dem Glanz verschont und erreichte mit Hobnaj unbehelligt die Große Sphinx.
Das in Stein gemeißelte Fabelwesen besaß den Körper eines Löwen, aber das Haupt eines Pharaos. Die monumentale Figur – ihre Höhe betrug ungefähr Sechsundsechzig und ihre Länge über zweihundertvierzig Fuß – ruhte in einer Art Becken, das ihre Erschaffer aus dem massiven Fels herausgehauen hatten. Nachdem Topra und Hobnaj über eine flache Treppe in diese künstliche Einsenkung hinabgestiegen waren, konnten sie zunächst aufatmen.
»Es müsste schon mit dem Seth zugehen, wenn uns jetzt noch jemand entdeckt«, flüsterte Hobnaj.
»Trotzdem wäre es mir lieber, wir hätten den Hinterausgang des Labyrinths schon gefunden.«
»Eine treffende Bezeichnung für das, was wir suchen. Ich schlage vor, du bringst deine Spürnase zum Hintern dieses Biests.«
Die beiden liefen an der linken Flanke der fabelhaften Katze entlang und blieben vor ihrer Schwanzwurzel stehen. Im Mondlicht war nicht das Geringste zu erkennen, was auf einen Zugang hindeutete.
»Wäre ziemlich unangenehm, wenn Fatima sich geirrt hätte«, knurrte Hobnaj. »Soll ich mal die Handlampe einschalten?«
»Nein, warte!« Topra schloss die Augen. Je ungenauer die Vorstellung war, die er von einer verschwundenen Sache hatte, desto schwieriger ließ sie sich von seinem Spürsinn finden. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf jenes legendäre Gewirr von Schächten, das sich in und unter der Figur befinden sollte. Bald drohte er zu verzweifeln, weil sich der Nebel vor seinem geistigen Auge einfach nicht lichten wollte. An der Kraft des Drillingsuniversums, die ihn so dicht vor seiner sechsten Lebenswelle heftiger denn je durchströmte, lag es nicht. »Ich kann keine Gänge sehen«, jammerte er.
»Du schaffst das schon«, sagte Hobnaj beruhigend. »Vergiss einmal das Labyrinth. Such nur nach einer Treppe, die weit in die Tiefe führt.«
Topra folgte dem Rat und konzentrierte sich nicht so sehr auf das große, sondern nur auf dieses kleine Ziel. Und plötzlich sah er den Schacht. Er war tatsächlich da, wo Fatima es beschrieben hatte, unter dem Schwanzansatz der Sphinx. »Tritt ein Stück zurück. Am besten da rechts herum«, sagte er und deutete auf die andere Seite der Figur.
»Heißt das…?«
»Ja, ich habe den Zugang gefunden.« Topra lief ebenfalls einige Schritte zurück und rief sich die Lektion in Erinnerung, die er in dem verlassenen Wüstenfort gelernt hatte. Mittlerweile war er einigermaßen geübt darin, den Raum so zu verbiegen, dass gewaltige Kräfte auf einen kleinen Punkt einwirkten. Hier dehnte er den ausgewählten Bereich am Hinterteil der Sphinx gewissermaßen nach innen, um verräterische Trümmer vor der Figur zu vermeiden. Dem menschlichen Auge blieb die allmählich zunehmende Spannung im Fels verborgen. Bis mit einem Mal ein Riss entstand. Es folgte ein mahlendes Knirschen, dann brach ein unregelmäßig geformtes Loch in die Sphinx.
Die Öffnung des Schachtes war erheblich unspektakulärer erfolgt als einige Monate zuvor das Katapultieren eines Lehmhauses durch die Wüste. Topra hatte sich diesmal bemüht, keinen unnötigen Lärm zu verursachen.
»Hätte ich die Fernsehbilder aus der Großen Säulenhalle nicht gesehen, würde
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