Die unsichtbare Pyramide
seinem Platz unter der Kuppel den Versuch. Dambaragh staunte nicht schlecht, als er plötzlich Das Buch der Balance in Dwinas Händen liegen sah.
»Entschuldigt, wenn ich Euch einen Rat erteile, aber Ihr solltet den Chef besser nicht wissen lassen, dass Ihr Abacucks Vermächtnis dieser strapaziösen Tortur aussetzt.«
Trevir grinste. »Wenn Ihr es ihm nicht sagt, braucht er es nicht zu erfahren. Erzählt ihm besser von unserem kleinen Versuch hier. Ceobba hat Recht gehabt: So wie meine Kräfte nicht in das Zentrum des Doms vordringen können, wird auch Wulf unsere Anwesenheit hier nicht spüren. Das ist mysteriös, aber in unserer gegenwärtigen Lage äußerst beruhigend.«
»In diesem Haus gibt es viele Wunder. Wollt Ihr nicht die Flüsternde Galerie ausprobieren?« Ähnlich wie in der Rotunde des Wissens gab es auch hier einen Rundgang unter dem Dach, von dem der Sprichwortgelehrte Erstaunliches berichtet hatte: Wenn hüben jemand leise flüsterte, konnte drüben der andere jedes Wort verstehen. Trevir und Dwina probierten es aus. Sie stellten sich auf der Galerie gegenüber und Dwina hauchte: »Die letzte Nacht mit dir war sehr, sehr schön.«
Obwohl der Durchmesser der Kuppel an die einhundert Fuß betrug, konnte Trevir jedes einzelne Wort verstehen.
»Und? Hat es geklappt?«, raunte Dambaragh von unten.
Trevir wurde rot. »Ja.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Etwas sehr Persönliches.«
»Oh, Verzeihung!«
Trevir nickte, ließ es sich dann aber doch nicht nehmen, seine Wange an die Wand zu legen und Dwina eine Antwort zu schicken. »Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.«
Die Flüsternde Galerie vermittelte einen guten Eindruck von der monumentalen Größe des Tempels, obwohl man ihn von dort oben nicht ganz überblicken konnte. Unter dem Dom kreuzten sich das gewaltige Längs- und ein kaum weniger imposantes Querschiff. Früher hatten hier einmal Holzbänke gestanden, deren Reste nun aber größtenteils zerfallen waren. Manches lag auch unter den Trümmern des eingestürzten Daches begraben. Im ganzen Gebäude nisteten Tauben, Schwalben und andere Bewohner der Lüfte. Die Spuren ihrer jahrhundertelangen Okkupation erinnerten Trevir stellenweise an die vom Dung der Seevögel bedeckten Felsen auf Sceilg Danaan. Zudem hatte der Wind geduldig Sand und Samen hereingetragen, wodurch das Karomuster der weißen und schwarzen Fußbodenplatten nur noch an geschützten Stellen sichtbar war; überall wuchs Unkraut auf der dünnen Krume. Und trotzdem glaubten die unter dem hohen Gewölbe winzig anmutenden Besucher noch zu spüren, dass Saint Dryden’s nicht zufällig an dieser Stelle errichtet worden war. Zuletzt hatte Trevir etwas Ähnliches beim Anblick der Linde hinter Idanas Kate gefühlt. In Annwn waren seine Empfindungen jedoch undeutlicher und weniger intensiv gewesen, so als habe er sich dem Schwingungsknoten nur genähert, ohne ihn wirklich zu finden.
Als Trevir die Galerie entlanglief, um wieder mit Dwina zusammenzutreffen, wanderte sein Blick über die Stuckverzierungen der Wand. Allerlei Motive aus der Natur waren dort zu sehen: Vögel, Katzen, Schlangen. Ob schon früher Pärchen hier heraufgestiegen waren, um sich leise ihrer Liebe zu versichern? Unvermittelt blieb Trevir stehen. Sein Blick klebte förmlich an einem Motiv, das nicht dem Tierreich entstammte.
Kurz darauf erreichte ihn Dwina. Sie versuchte zu erkennen, was ihn so in Bann schlug. »Hast du etwas entdeckt?«
Trevir streckte die Hand aus und deutete wortlos auf ein Symbol, das im Gegensatz zu den Tieren im Stuckfries nicht erhaben, sondern darin eingeritzt war. Es handelte sich um ein Dreieck, in dessen Mitte sich ein Auge befand.
»Könnte sich auf die drei Welten des Triversums beziehen«, murmelte Dwina. Ihre Fingerspitzen strichen sacht über die Vertiefungen.
Leise erklärte Trevir: »Im Dreierbund gab es drei Kreise des Wissens. Wenn ein Novize Zutritt zum äußeren Kreis erlangte, wurde ihm so ein Dreieck in die Haut tätowiert, allerdings ohne Auge. In den nächsten zwei Stufen erhielt das Emblem der Unsichtbaren Pyramide ihre endgültige Gestalt; du hast das Feuermal auf meiner Schulter gesehen.«
»Aber das da ist nur ein Dreieck, eine nicht sonderlich ausgefallene Form. Vielleicht stellt dieses Zeichen hier etwas ganz anderes dar.«
Trevir ergriff Dwinas Hand und zog sie sanft von der Wand weg. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Gib Acht!«
Er legte die rechte Handfläche über das Dreieck und schloss die
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