Die unsichtbare Pyramide
konnte die Heilige Jungfrau Maria ja schließlich nicht mit den Proportionen eines Nilpferdes malen.
Das Mädchen auf Seite dreiundachtzig des Time Magazine pries mit seinem Lächeln ein neues Shampoo für strapaziertes Haar an. Es fiel Francisco schwer, sich Maria mit einem Schuppenproblem vorzustellen.
Trotzdem erinnerte die Schönheit ihn irgendwie an Clara.
Das mochte daran liegen, dass er ohnehin ständig an sie dachte, umso mehr, seit er den Stapel Briefe in Vicentes mysteriösem Aluminiumkoffer entdeckt hatte. Franciscos Augen wanderten nach rechts, wo sein Bruder den Fensterplatz besetzt hielt. Vicente grinste ihn an.
»Hübsches Häschen, nicht wahr?«
Francisco blätterte demonstrativ die Seite um. Noch eine Stunde und die Air-France-Maschine würde in Paris landen. Und dann? Er hatte sich immer noch nicht entschieden.
Sein Blick sank wieder auf das Magazin herab und im nächsten Moment war sein Nacken so hart wie Gips. Wie hypnotisiert stierte er auf das Bild unter seiner Nase. Die blonde Schönheit hatte ihm einen Hinterhalt gelegt. Nur so konnte er arglos in diese Falle tappen. Oder wie sonst sollte er die Zeichnung vor seinen Augen deuten? Eigentlich waren auf der Seite mehrere Grafiken abgebildet, aber eine glich auf überraschende Weise Franciscos Muttermal. Nachdem er eine Weile gestarrt hatte, hörte er neben sich erneut Vicentes spöttische Stimme.
»Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«
Francisco hatte es stets vermieden, seinem Bruder das Feuermal zu zeigen, vielleicht aus Scham oder aus demselben Grund, der ihn die Einsamkeit suchen ließ, wenn er das Nahen des Glanzes fühlte, er konnte es sich selbst nicht erklären. Aber woher speiste sich dann dieses höhnische Funkeln in Vicentes graublauen Augen? Wusste er mehr, als er zugeben wollte? »Das ist ein Artikel über den niederländischen Künstler Maurits Cornelis Escher«, antwortete Francisco lahm.
»Kennst du ihn?«
Francisco schüttelte den Kopf.
»Und dieses Symbol da?« Vicente deutete auf ein verschlungenes Band, das sich um ein dreieckiges Zentrum legte.
Er bekam keine Antwort.
»Nun, das ist ein so genanntes Möbius-Band, benannt nach einem deutschen Mathematiker namens August Ferdinand Möbius. M. C. Escher hat ständig solche Motive gemalt. Siehst du das da?« Vicente deutete auf eine andere Grafik, die einem zur Acht gelegten Band glich, auf dem sich rote Ameisen entlangbewegten. »Das ist ein echtes Möbius-Band, also eine Fläche, die entsteht, wenn man ein langes, rechtwinkliges Papierband nimmt, die Enden um einhundertachtzig Grad gegeneinander verdreht und sie zu einer Schlinge zusammenklebt. Das Faszinierende daran ist, dass der Streifen zwar eine zweidimensionale Ausdehnung, aber nur eine Seite hat.«
»Aus zwei mach eins. Sehr eindrucksvoll!« Francisco versuchte gleichgültig zu klingen.
»Nicht wahr! Würdest du das Band in der Mitte entzweischneiden, wie viele Schlingen hättest du dann?«
»Zwei natürlich.«
»Falsch. Es kommt nur eine heraus. Wie du schon bemerktest:
Was uns getrennt erscheint, sind in Wirklichkeit nur verschiedene Sichten auf ein und dasselbe.«
»Das habe ich doch gar nicht gesagt.« Aber Francisco ahnte, worauf sein Bruder hinauswollte.
»Bei dir klang es nur weniger poetisch. Noch Ungewöhnlicheres entsteht übrigens, wenn du mit der Schere ein Drittel von der Breite des Bandes abzuschneiden versuchst. Wohlgemerkt nicht die Hälfte, sondern den dritten Teil. Was kommt dann wohl heraus?«
Francisco nahm einen Schluck von der Cola, die vor ihm auf dem Klapptischchen stand, und verzog das Gesicht, weil sie nach abgestandenem Eiswasser schmeckte. »Wenn wir uns die Bastelstunde ersparen wollen, könntest du es mir ja auch gleich verraten.«
»Vielleicht solltest du es bei Gelegenheit ausprobieren. Aus manchen Blickwinkeln wirst du glauben, drei verschiedene Schleifen zu betrachten, aber es bleibt trotzdem nur eine einzige. Ein schönes Symbol für das dreifache Multiversum, oder?«
»Ziemlich weit hergeholt, wenn du mich fragst.«
»Ach! Du kannst einen räumlichen Körper mit entsprechenden Eigenschaften nebenbei bemerkt auch aus gleichschenkligen Dreiecken zusammensetzen, die du aus einer Holzplatte ausgesägt hast. Wenn du sie ungefähr im Kreis anordnest und jedes Dreieck gegenüber seinem Vorgänger ein wenig drehst, bekommst du an allen drei Außenseiten wieder eine unendliche Fläche. Verblüffend, nicht wahr?«
Francisco fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Das
Weitere Kostenlose Bücher