Die unsichtbare Pyramide
nach zu urteilen, handelte es sich bei dem Tunnel unter der Sphinx um eine Art Nebenausgang. Schon beim nächsten Abzweig wich diese Schlichtheit einer aufwändigen Granitverkleidung. Einige Zeit später stießen die Entdecker auf einen Schutthaufen.
»Der Tunnel ist eingestürzt«, sagte Vicente. Er klang verzweifelt.
»Damit sollte man immer rechnen«, kommentierte Helwan gleichmütig.
»Ja, aber wir müssen bis morgen zur Kammer vorstoßen.«
»Wenn der Gang auf einer längeren Strecke zusammengebrochen ist, können Sie Ihre Wette vergessen, Senor Alvarez.«
»Dann drehen wir am besten um«, schlug Francisco vor.
Vicente ließ den gelben Kegel seiner Lampe über den Schutt gleiten. Plötzlich rief er aufgeregt: »Da! Oben links! Könnt ihr das Loch erkennen?«
Zwei weitere Lichtfinger tasteten sich zu der Stelle vor.
»Ich kann hinter der Öffnung die Tunneldecke sehen. Vielleicht gelingt es uns hindurchzukriechen.«
Sie schafften es, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten. Francisco hatte nur wenig Mühe, sich an den scharfkantigen Trümmern vorbei durch das Loch zu zwängen, doch der korpulente Ägypter blieb stecken. Kurioserweise erlitt Helwan dabei einen Lachanfall, was sich unter der Gasmaske so anhörte, als huste er in einen Blecheimer. Nach eigenem Bekunden betrachtete er die schweißtreibende Übung als Reminiszenz an glückliche Jugendtage, als er im Wadi Al Jubal durch den Dreck gerobbt sei. Durch Hinwegräumen einiger Gesteinsbrocken zu beiden Seiten der Öffnung war der Doktor bald wieder manövrierfähig.
Zuletzt schob sich Vicente durch das kantige Loch. Er war erheblich größer als der Ägypter, besaß jedoch einen schweren Knochenbau, der seine Beweglichkeit um einiges einschränkte. Als sein Oberkörper schon die andere Seite des Tunnels erreicht hatte, ratschte es laut.
»Was war das?«, fragte Francisco.
»Ich glaube, meine Hose«, antwortete Vicente. Mit einer halb abgerissenen Gesäßtasche setzte er seinen Entdeckungsfeldzug fort.
Francisco verfiel wieder in Schweigen. Welche Hindernisse würden sie wohl noch erwarten? Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Am liebsten hätte er sich die Gasmaske vom Gesicht gerissen. Vicente hatte seine lädierte Hose schnell vergessen und betrachtete sichtlich ergriffen die Schachtwände. Der Ausgrabungsleiter klopfte sich ab und zu etwas Staub aus Hemd oder Hose und pries in orientalischer Blumigkeit die Ausmaße der »unterirdischen Stadt« – damit bezog sich diesmal er auf den griechischen Geschichtsschreiber Herodot. Er fühle sich in das fast vergessene Labyrinth beim alten Moeris-See versetzt, schwärmte Helwan. Es habe angeblich dreitausend Kammern besessen, von denen die Hälfte unter der Erde lag.
»Hab davon gelesen. War doch ein Osiris-Tempel, oder?«, fragte Francisco, um sich von einer aufkommenden Übelkeit abzulenken.
»Osiris, Horus und Isis bildeten eine Götterdreiheit«, warf Vicente von hinten ein.
Francisco verdrehte hinter den Fenstern seiner Atemschutzmaske die Augen zur Decke.
»Ich glaube, der Gang hört da vorne auf«, sagte Helwan und leuchtete direkt nach vorn.
So war es. Der Tunnel endete vor einer Steintür. Sie bestand aus rotem Granit. Ein Fluch warnte die Eindringlinge vor überstürztem Handeln. Francisco bemerkte sogleich die Namenskartusche, doch ehe er die Hieroglyphen entziffert hatte, wurden sie schon von dem ägyptischen Archäologen übersetzt.
»Möge der Tod mit schnellem Flügelschlag zu dem kommen, der den Frieden Imhoteps stört.«
»Imhotep!« Vicentes Stimme war nur ein Flüstern, wie wenn sich für ihn gerade ein Lebenstraum erfüllte.
Franciscos Unbehagen wollte sich nicht vertreiben lassen. »Ich finde, für heute haben wir genug erreicht.«
Helwan strich mit der Hand über den Granit. »Faszinierend! Wir haben gehofft Cheops Grab zu finden und entdecken stattdessen die letzte Ruhestätte des Erfinders der Megalithbauten, des Kulturheroen, des göttlichen Weisen, des…«
»Sprösslings des Ptah, der die Welt erschuf, indem er seine Gedanken in Worte fasste«, beendete Vicente ergriffen die Aufzählung.
»Mir gefällt das nicht«, knurrte Francisco. »Wozu braucht der Sohn eines Totengottes ein Grab? Müsste er nicht unsterblich sein?«
Schon seit Tagen hatte Francisco das Nahen der sechsten Welle gespürt, aber vor keiner der bisherigen großen Annäherungen war er so unruhig gewesen wie an diesem Abend. Die Sonne versank blutrot hinter den Pyramiden von Giseh. Vicente
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