Die unsichtbare Pyramide
Glanz nimmt schnell zu. Wir sollten keine Zeit verlieren.«
Einem Einbalsamierer gleich, der seine neueste Mumie bewundert, glitt Vicentes’ Hand über den gefesselten Körper, von der Stirn über den Mund und die Brust, bis… »Was haben wir denn da?«, fragte er überrascht, doch nicht ohne Häme, als er den Umschlag unter Franciscos T-Shirt ertastete. Vicente zog das Kuvert aus dem Hosenbund hervor, las den Absender und schmunzelte. Rasch zog er den Brief hervor und überflog die ersten Zeilen.
»Lieber Francisco… war ich in großer Sorge… Mein Erzeuger scheint ein noch größerer Schuft zu sein, als ich bisher dachte«, zitierte er bruchstückhaft den Text. »Wirklich rührend, wie sich meine Tochter um dich sorgt. Was sie da allerdings über mich schreibt – solche Verleumdungen hat sie sich in den vorherigen Briefen nicht herausgenommen. Jetzt ist mir die Szene heute Abend klar. Eigentlich sollte ich böse sein, dass mein eigen Fleisch und Blut mir in den Rücken fällt, aber was soll’s?« Vicente ließ Umschlag und Brief achtlos zu Boden fallen. »Das spielt nun auch keine Rolle mehr. Fangen wir an.«
Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Francisco die Eröffnung des Rituals. Vicente hielt mit einem Mal jenes dünne, in schwarzes Leder gebundene Buch in der Hand, das ihm unter der eingestürzten Decke aus der Tasche gefallen war. Nun begann er daraus vorzulesen.
Schon nach den ersten Worten begriff Francisco, was er da hörte. Es waren Worte des Totenbuches, einer Sammlung von Sprüchen und Bildern, die das Fortleben im Jenseits sichern sollten. Doch die alten Ägypter hatten diesen magischen Text ihren Verstorbenen mit ins Grab gegeben. Warum verlas dieser Verrückte ihn hier und jetzt?
»… Gruß dir, Osiris, du Stier der Amenti!
Durch meinen Mund spricht
Der Ewigkeit Fürst, mächtiger Thot!
Ein Gott bin ich fürwahr, die Sonnenbarke begleitend,
Während sie das Himmelsgewölbe durchzieht.
Einer bin ich der großen Götter der Urzeit,
Welche am Tag des Worte-Abwägens
Osiris beistehn, ihm helfen den Feind zu bezwingen.
Nun leb ich, Osiris, in deiner Umfassung…«
Francisco geriet in Panik. Die Worte des Totenbuches machten ihm Angst. Er ahnte, worauf dieses schaurige Spiel hinauslaufen würde. Als Vicente ihm in England über Ynis Witrin erzählt hatte, die »Gläserne Insel«, die besser unter dem Namen Avalon bekannt war, sprach er von einem Ort, an dem man zu einer »anderen Ebene der Existenz hinüberwechseln konnte«. Dieser Wechsel war, wie Francisco schon vermutete, nichts anderes als der Tod!
Aber wie hätte er denn ahnen sollen, dass Vicentes Gerede ernst gemeint war? Selbst an diesem Abend, als er Claras Brief erhalten hatte, war es noch nicht zu spät gewesen. Er hatte sich der merkwürdigen Bemerkung seines »Bruders« bei ihrer ersten Begegnung erinnert – Ich schenke dir die Münze, damit du nie vergisst, wie man sich irren kann – und das Warnzeichen ignoriert. Wenn du nicht zuhörst, wirst du nie die ganze Wahrheit erfahren. Auch diese von Vicente im Kloster fallen gelassene Bemerkung erschien Francisco nun wie eine zynische Verhöhnung. Wie oft hatte er sich geärgert, wenn die Menschen ihre inneren Stimmen nicht zum Schweigen bringen konnten und deshalb nie die Wahrheit hinter der vermeintlichen Wirklichkeit erkannten. Jetzt merkte er, wie sehr er selbst dieser Ignoranz verfallen war. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Er musste Vicente, der sich immer mehr in Ekstase redete, aufhalten. Der anschwellende Singsang des selbst ernannten Priesters hatte offenbar gerade einen Höhepunkt erreicht. »Er wird lebend sein und existieren wie ein Gott…«
»Vicente!«, schrie der Gefesselte und zerrte erneut an seinen Hand- und Fußfesseln, bis der Schmerz ihm Einhalt gebot. Wenigstens gehorchte ihm seine Zunge wieder. »Vicente, wach auf!«
Tatsächlich hielt der Angerufene inne und sah, mit glasigem Blick, auf sein Opfer herab.
Francisco schöpfte neue Hoffnung. »Weißt du nicht, zu wessen Kind du dich machst, wenn du diese Worte mit neuem Leben erfüllst? Schon im Paradies hat sie der Teufel zu Eva gesprochen, als er sich listig hinter der Schlange verbarg: ›Ihr werdet bestimmt nicht sterben… und ihr werdet sein wie Gott.‹« Francisco hielt inne, wartete, ob sein beschwörendes Flehen schon irgendeine Wirkung zeigte. Als Vicente nichts tat und ihn nur weiter anstarrte, fuhr er ermutigt fort: »Christus nannte Satan den Vater der Lüge.
Weitere Kostenlose Bücher