Die unsichtbare Pyramide
Überleg doch! Wenn das Totenbuch die Täuschungen des Versuchers wiederholt, dann kann es nur ein Lügenbuch, sein. Was immer du dir von dieser Zeremonie erhoffst, es ist ein fataler Irrtum. Bind mich los, Vicente. Bitte!«
Für einen Moment glaubte er den Mann, der sich monatelang als sein Bruder ausgegeben hatte, zurückholen zu können. Vicente sah mit verklärtem Blick auf ihn herab, wirkte fast traurig und was er sagte, begann auch durchaus viel versprechend: »Du hast Recht, Francisco. Ich bin Wissenschaftler. Dieser Hokuspokus ist mit Sicherheit nur schmückendes Beiwerk.«
»Dann öffne bitte die Handschellen.«
Mit einem eiskalten Schauer verfolgte Francisco, wie sich der eben noch wehmütige Ausdruck auf Vicentes Gesicht in eine Grimasse des Irrsinns verwandelte. »Einen Teufel werde ich tun. Jetzt kommt doch erst der Höhepunkt!« Er lachte, dass es Francisco kalt den Rücken herunterlief, und bückte sich nach seiner Tasche, die neben dem Sarkophag am Boden lag.
Der Saphirdolch!, zuckte es dem Gefesselten durchs Hirn. Er will mich abschlachten wie ein Lamm. Mit aller Kraft rüttelte er an den drei Handschellen, die mit Karabinerhaken an den Ösen der Metallklammern befestigt waren – der rechte Arm hing drüben fest, der linke hüben, die Füße in einer einzigen Fessel am unteren Ende des schweren Sargdeckels –, aber alles Zerren nützte nichts. In Todesangst brüllte Francisco um sein Leben.
Auch Vicente schrie mit einem Mal, als hätte der Wahnsinn ihm nun restlos den Verstand geraubt. Sein Kopf fuhr hinter dem Basaltsarg auf. »Wo hast du ihn?«
»Wen?« Francisco ahnte, was der andere meinte. Er ließ sich seine Erleichterung jedoch nicht anmerken. Du musst Zeit gewinnen, bis der Glanz abklingt!, machte er sich klar. Der Höhepunkt des Strahlens war nicht einmal erreicht, andernfalls würde ihn Vicente kaum mit ungeschützten Augen ansehen können.
»Den Brieföffner natürlich!«, geiferte Vicente.
»Du meinst das Erbstück deines Vaters.«
»Erbstück?.« Vicente lachte irr. »Meinst du, der alte Pedro Alvarez hätte mir das Stilett freiwillig überlassen? Ich hab’s ihm gestohlen! Er hielt sich für den unfehlbaren Hüter des Gleichgewichts, der die drei Welten wieder vereinen würde. Mich hat er anfangs in das Wissen der Unsichtbaren Pyramide eingeweiht, weil ich ihm seinen Traum erfüllen sollte, aber in der Nacht, als du mit deinem vollkommenen Muttermal geboren wurdest, merkte er, dass ich nicht so funktionierte, wie er sich das erhofft hat. Dieser Narr hat mir darauf einige sehr hässliche Dinge gesagt, die mich sehr wütend machten.«
Ein grauenvoller Gedanke beschlich Francisco, aber dies war nun wirklich nicht der Zeitpunkt, Vicente darauf anzusprechen.
Er musste beruhigend auf ihn einwirken. »Die Worte, die uns am meisten wehtun, sind oft auch die größten Lügen. Du bist kein Ausschuss, Vicente, oder was immer der Provinziale behauptet haben mag. Du…« Er verstummte, weil plötzlich ein Zittern durch die Kammer des Wissens ging.
»Als hätte ich’s nicht geahnt!«, zischte Vicente.
»Ein Erdbeben?«
Vicente kreischte vor Wut. »Erdbeben? Du bist wirklich noch dümmer, als mein Vater es war. Da dreht noch jemand anderer an den Schräubchen des Multiversums. Er will mich bestehlen. Aber das lasse ich nicht zu.« Vicente sprang ins Wasser und redete unablässig weiter. »Ich habe meine Zeit mit nutzlosem Geschwafel verplempert. Der Dolch ist mir bestimmt bei dem Schutthaufen aus der kaputten Tasche gerutscht. Ich muss ihn finden… Ihn finden…« Immer wieder dieselben Worte murmelnd, watete er durch das Bassin, stieg am anderen Ende wieder heraus und verschwand durch die Tür ins Labyrinth.
Erneut schrie Francisco und zog heftig an seinen Fesseln. Seine Hand- und Fußgelenke waren schon wund gescheuert, aber er konnte weder die Ketten sprengen noch die am Sargdeckel befestigten Klammern lösen. Auch seine Gabe setzte er ein, aber die nützte ihm nicht viel. Er hatte damit bisher nur herumgespielt, hier und da ein wenig das Gleichgewicht von Gegenständen verschoben, aber wie sollte er auf diese Weise das Schloss der Handschellen aufbekommen? Unmöglich!
Erschöpft ließ er den Kopf auf den Sarkophag zurücksinken und zwang sich zur Ruhe. Das Nachdenken fiel ihm unendlich schwer. Aber er musste sich konzentrieren! Vermutlich würde das Betäubungsmittel seine Gabe noch eine ganze Weile blockieren. Wenn er Vicente nur irgendwie zur Besinnung bringen könnte!
Der
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