Die unsichtbare Pyramide
hatte. Für ihn war sein Schüler der Angelpunkt des Triversums gewesen. In weniger als vier Jahren hätte er Trevir zum Hüter des Gleichgewichts ernannt. Und nun?
Das Geschehen der letzten Nacht hatte fast alles verändert, aber eines nicht: Schon der Gedanke, Oberhaupt des Dreierbundes zu sein, erschien Trevir anmaßend, im Grunde unvorstellbar, wie ein dummer Scherz. Von Anfang an sei er dazu bestimmt gewesen, diese Verantwortung zu übernehmen, ja sogar der Hüter der Unsichtbaren Pyramide zu werden – auch das hatte sein Meister gesagt. Aber jetzt war Aluuin tot. Bewies das nicht, dass auch er sich irren konnte?
»Vielleicht musst du es herausfinden«, flüsterte Trevir zu sich selbst.
Liebevoll ordnete er noch einmal Aluuins Haar und schob den langen weißen Bart etwas mehr zur Seite, damit er die Einstichstelle über dem Herzen verdeckte. Er lief hinaus, suchte und fand bald einen von Aluuins Ersatzstäben, den legte er dem Toten in den Arm. Dann verließ Trevir endgültig das Versammlungshaus und machte sich daran, den Eingang und das einzige Fenster zu verschließen. Trümmer gab es ja genug. Stein auf Stein legte er in die rechteckigen Öffnungen, bis die Hütte zuletzt wie ein großer Sarkophag aussah.
Hiernach suchte sich Trevir etwas Proviant zusammen – die abseits gelegene Speisekammer hatte das Schwarze Heer unversehrt gelassen, vielleicht weil es dort niemanden zu ermorden gab. Er verschnürte Brot, Käse, einen kleinen verstöpselten Krug mit Milch, etwas Gemüse und ein paar Kräuter in einem großen Tuch. Dieses befestigte er am Knauf von Aluuins Lieblingsstab und legte ihn sich über die Schulter. Er warf einen letzten Blick auf die zerstörte Anlage, die ihm sein Leben lang als Zuhause gedient hatte. Dann lief er zu der Grotte, wo das Boot versteckt lag. Auf dem Weg dorthin verabschiedete er sich von den Schafen. Dwina nahm er noch einmal auf den Arm und drückte ihren wolligen Leib an seine Wange.
»Mach’s gut, kleine Ausreißerin. Ab heute muss deine Mutter auf dich aufpassen.«
Der Dreierbund war eine Gemeinschaft gewesen, die immer viel Wert auf ihre Abgeschiedenheit vom Rest der Welt gelegt hatte. Gleichwohl gehörte es zu den Pflichten ihres Oberhauptes, ab und zu hinauszufahren, um einen neuen Schüler auszuwählen, damit die Gesamtzahl von drei mal zwölf Brüdern gesichert blieb. Zu diesem Zweck – und weil Qennouindagnas gelegentlich zum Fischen auf den Ozean hinausgefahren war – gab es auf Sceilg Danaan zwei Boote unterschiedlicher Größe. Weil Trevir den Seemann der Bruderschaft hin und wieder begleitet und von ihm so manches gelernt hatte, wusste er leidlich mit den Seglern umzugehen. Er wählte den kleineren, den er leichter zu beherrschen hoffte. Als die Herbstsonne längst ihren Zenit überschritten hatte, verließ er die Insel der Stürme. Erschreckend rasch schrumpften die Klippen von Sceilg Danaan am Horizont. Trevir wandte den Blick nach vorn. Hinter ihm lagen nur Tod, Verwüstung und einige beunruhigende Erfahrungen, vor ihm dagegen eine ungewisse Zukunft.
Die erste eigene Reise mit einem Segelboot gestaltete sich dann doch schwieriger als erwartet. Obwohl die stürmischen Winde nachgelassen hatten, war die See noch immer rau. Für einen Tölpel betrug die Strecke über das Meer nur etwa zehn Meilen, aber für den »Schiffsjungen« Trevir erheblich mehr. Kreuz und quer schlingerte sein Boot über die Wellen und mehr als einmal wäre er vom Großbaum fast ins Wasser gefegt worden. Es dämmerte schon, als er schließlich nass, aber ansonsten unbeschadet an der Küste jenes grünen Landes, das er nur aus den Erzählungen seiner Brüder kannte, den kleinen Anker auswarf.
Es sei auch nur eine Insel, hatten sie gesagt. Dahinter liege ein größeres Land, das ebenfalls ganz vom Meer umschlossen sei, und dort gebe es eine Gegend, die man »das Ende der Welt« nannte. Aus diesem Irgendwo rage Zennor Quoit, Mologs Festung, wie eine dunkle Bedrohung für jeden, der sich ihr zu nähern wagte. Trevir war entschlossen, diesen Ort zu finden. Vielleicht würde seine Suche viele Jahre dauern, denn als letzter Überlebender des Gemetzels von Sceilg Danaan musste er sehr vorsichtig sein. Womöglich waren die Abgesandten des Schwarzen Heeres ja wegen ihm gekommen – Aluuin hatte diesbezüglich düstere Warnungen ausgesprochen.
Doch davon wollte sich Trevir nicht schrecken lassen. Der Herr des Schwarzen Heeres war ihm eine Erklärung schuldig.
5
Unter den Augen des
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