Die unsichtbare Pyramide
anfing. »Ich will noch nicht in die Hölle! Bitte weiche von mir, du Engel der Finsternis…!«
Endlich begriff Francisco, was in den Gehirnwindungen des Fahrers vor sich ging. Er hielt diesem die abgezählten Geldscheine hin – schließlich war er ein ehrlicher Mensch –, verursachte dadurch aber nur noch größeres Durcheinander. Der Fahrer erschrak gleich zweifach: zum einen, weil die ihm auf den Pelz rückende Hand ebenfalls ganz außerordentlich leuchtete, und zum anderen, weil die Zigarette gerade seinen Oberschenkel ansengte. Er schrie und die Waffe rutschte ihm aus der Hand. Sie flog haarscharf an Franciscos Kopf vorbei. Ein Schuss löste sich. Die hintere Scheibe wurde von der Kugel durchlöchert. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Plötzlich wurde Franciscos Kutte feucht. Dieser Vorgang vollzog sich nicht etwa dort, wo man es in Momenten großer Furcht noch billigen mochte, sondern überall gleichzeitig. Nun fing auch der Novize an zu schreien. Blut!, war sein erster Gedanke, denn allzu lebendig erinnerte er sich des letzten »Wunders«. Auch der Taxifahrer brüllte wie am Spieß und zappelte dabei, als hätte er Hemd und Hose voller Zitteraale. Francisco begann sich zu wundern. Die Nässe war kälter, als man es von Blut erwarten durfte, und außerdem lief die Flüssigkeit jetzt in Strömen aus seiner Kutte heraus. Er brauchte nur die Zunge auszustrecken, um das salzige Nass zu kosten. Es war Wasser. Meerwasser?
Im Nu füllte sich das Taxi mit dem gurgelnden Nass. Wegen des vergleichsweise kühlen Maiabends waren alle Fenster geschlossen. Nur aus dem Loch in der Heckscheibe schoss ein dünner Wasserstrahl.
Francisco kämpfte gegen die Panik an und versuchte sich zu orientieren. Eine Zigarettenschachtel schwebte vor seinen Augen vorbei, umkreist von einem verspielten kleinen Fisch. Endlich erlangte der Novize seine Fassung zurück. Wenn er nicht schnell reagierte, würde er in dem Taxi ertrinken. Hektisch tastete er nach dem Türgriff. Die Luft in seinen Lungen wurde immer knapper. Sein Brustkorb schien sich regelrecht aufzublähen und drohte – wie sein Kopf – jeden Moment zu zerplatzen. Endlich fand er den Hebel und riss daran. Der Druck des Wassers reichte vollauf, um die Tür aufzusprengen. Francisco wurde auf die Straße geschwemmt und mit ihm eine Anzahl größerer und kleinerer Meeresbewohner. Hustend und prustend kam er auf die Beine. Hinter sich hörte er das Wimmern des Fahrers; er schien den Verstand verloren zu haben. In der näheren Umgebung zappelten Fische im Todeskampf. Ein Krebs versuchte sich davonzustehlen. In respektvollem Abstand standen mehrere Fahrzeuge, deren Lenker von dem Schuss, vielleicht auch vom Anblick der sprudelnden Heckscheibe des Taxis, aufmerksam geworden waren und wissen wollten, was da vor sich ging. Aus der Ferne ertönte eine Polizeisirene. Francisco wusste, dass er sich schleunigst davonmachen musste, sonst wäre seine Flucht aus dem Kloster schon zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte.
Das Haus von Claras Mutter stand in der Nähe der großen Markthalle von Huelva, in einer schmalen Gasse, die Francisco nicht kannte. Aber er ließ sich von seinem Gedächtnis führen, konnte er sich doch noch an jedes Wort erinnern, das die Vorsängerin des Klarissenchors zu ihm gesprochen hatte. Sie habe ihren Vater seit Jahren nicht mehr gesehen. Der bittere Klang ihrer Stimme bei dem letzten Treffen der beiden war Francisco noch gut in Erinnerung. Er hatte nicht gewagt ihrer deutlichen Erregung durch unbequeme Fragen auf den Grund zu gehen. Wie er sich nach der Unwissenheit jener Zeit sehnte! Damals war Clara für ihn die Schöne gewesen, ein engelsgleiches Wesen, das er unentwegt anschauen und bewundern und in das er, zumindest heimlich, verliebt sein durfte. Jetzt hatte sich alles geändert: Sie war seine Nichte – ein grotesker Gedanke, der ihm wie ein rostiger Nagel im Bewusstsein steckte. Obwohl in Franciscos Herzen das Unterste zuoberst gekehrt war, wusste er sich nicht anders zu helfen, als das Mädchen um Hilfe zu bitten. Die Flucht vom überfluteten Taxi war einigermaßen hektisch verlaufen. Er hatte eine nasse Spur hinter sich hergezogen, hin und wieder auch einen Meeresbewohner zurückgelassen, der in den Falten seiner Kutte hängen geblieben war. Zugleich umgab ihn ein penetranter Fischgestank, vor dem selbst die Straßenköter jaulend das Weite suchten; Franciscos Nase war bald wie betäubt. Wenigstens hatte das blaue Strahlen rasch nachgelassen.
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