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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Als gelehriger Schüler hatte er bei Clutarigas, dem Bader, schnell gelernt, wie man nicht nur wohltuende Arzneien, sondern auch Mittel der eher unangenehmen Art mischte. Vom Niespulver bis zum schnell wirkenden Gift beherrschte er die ganze Palette. Doch Trevir war kein hinterlistiger Meuchler. Deshalb hatte er für diese Gelegenheit etwas ganz Besonderes zusammengeschüttet: ein staubfeines Pulver, das einen Menschen für begrenzte Zeit lähmen konnte, ein zweites, ganz ähnliches, das wie eine Fessel wirkte – man konnte mit dem Betäubten noch reden –, sowie ein drittes, das, in die Augen gestreut, vorübergehend für Blindheit sorgte.
    Trevir überwand auf seinem Weg nach oben mehrere von Fackeln erhellte Stockwerke: eine Wachstube, die glücklicherweise unbesetzt war, eine Art Besprechungs- und Speiseraum mit einer großen runden Tafel und mit einer Kochstelle, ein Schlafgemach sowie ein mit kostbaren Hölzern ausgestattetes Arbeitszimmer, höchstwahrscheinlich die Brutstätte für etliche von Mologs Eroberungsfeldzügen. In der Kammer standen ein Tisch, ein Sessel, mehrere Stühle und Truhen, Regale voller Pergamente, aber mit nur wenigen Büchern, sowie eine Ritterrüstung. An den Wänden hingen allerlei Waffen, die Trevirs Phantasie überforderten. Er konnte sich weder ausmalen, wie man diese Werkzeuge des Krieges »richtig« einsetzte, noch wollte er es.
    Vom Turmzimmer führte eine Leiter zu einer Deckenluke; ein schwerer Eisenriegel hielt sie verschlossen. Das bedeutete: Von oben drohte keine Gefahr. Und das hieß außerdem: Molog war nicht zu Hause. »Wäre ja auch zu leicht gewesen«, brummte Trevir. Was nun? Sollte er hier warten? Das war vermutlich keine gute Idee, denn wenn der Herr des Schwarzen Heeres auf einem neuen Eroberungsfeldzug war, dann konnte es Wochen, vielleicht Monate dauern, bis er nach Zennor Quoit zurückkehrte. In diesem Fall wäre es besser, sich wieder aus der Burg zu stehlen und zum rechten Zeitpunkt wiederzukommen.
    »Ob Ihr mir wohl eine Nachricht hinterlassen habt, hoher Herr?«, flüsterte Trevir und schielte zum Tisch hinüber. Darauf stapelten sich eine Unmenge von Papieren. Immerhin war es beachtlich, dass der Burgherr offenbar lesen und – ein Tintenfass mit einer Feder legte diese Vermutung nahe – schreiben konnte. Während seiner Wanderschaft hatte der Pilger von Sceilg Danaan erfahren, wie wenig verbreitet jene Fertigkeiten waren, die unter der Bruderschaft vom Dreierbund zur Grundausbildung gehörten. Selbst hohe Herren und Kriegslords bedienten sich lieber der Dienste von Schreibern und Vorlesern, als selbst den Kampf mit den Buchstaben aufzunehmen. Führte Molog über seine Feldzüge Buch oder plante er sie im Voraus? Hielt er schriftlichen Kontakt zu Verbündeten, die er für die Einnahme einer befestigten Stadt dingte? Es hieß, Molog sei kein Freund langer Belagerungen.
    Wie auch immer, dachte Trevir, du darfst, nachdem du so weit vorgedrungen bist, nicht einfach wieder verschwinden, ohne wenigstens irgendetwas erreicht zu haben. Also machte er sich auf den Weg zum Tisch.
    Ein vom Kopf gegebener Befehl ist, sobald die Füße sich ihm unterworfen haben, so schnell nicht wieder rückgängig zu machen. Zu dieser Einsicht gelangte Trevir erst zwei Schritte nachdem ihm aufgegangen war, dass mit dem Turmzimmer etwas nicht stimmte. Viel zu spät blieb er – auf den Zehenspitzen balancierend – stehen.
    Der Fußboden zwitscherte!
    Trevirs Nackenhaare standen ihm zu Berge. So etwas hatte er noch nie erlebt. Vorsichtig kippelte er mit dem linken Fuß. Ja, die Dielen waren beweglich aufgehängt, sodass sie schon unter geringster Belastung ein lautes, helles Quietschen von sich gaben. Zweifellos handelte es ich bei dem zwitschernden Fußboden um eine raffinierte Alarmvorrichtung und er hatte das Signal ausgelöst. Wie viele Schritte war er gegangen? Drei? Hatte man ihn gehört?
    »Probier es besser nicht aus!«, mahnte er sich, kaum hörbar, selbst und wollte gerade auf dem Absatz herumfahren, als sein Blick wie magisch zum Tisch hingezogen wurde. Dem »Empfänger«, wie Aluuin ihn einst genannt hatte, war dieses Gefühl zwar vertraut, aber bisher hatte es ihn nur geleitet, wenn er bewusst nach etwas suchte. Seine Augen wanderten über das Durcheinander auf der großen Arbeitsplatte und blieben plötzlich an einem glitzernden Kettchen hängen, das zu einem offenbar silbernen Zylinder führte, vom Durchmesser her kaum dicker als ein Besenstiel. Das unten verschlossene

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