Die unsichtbare Pyramide
durch den düsteren Forst. Erst als die Sonne aufging, legte er eine Rast ein. Zum Anzünden eines Feuers hatte er sich nicht durchringen können, aber jetzt vermochte er seine Neugier nicht länger zu zügeln. Er wollte endlich den Inhalt des silbernen Behälters erforschen.
Fast ehrfürchtig schraubte er den mit dem roten Band des Dreierbunds verzierten Deckel von der Röhre, drehte sie um und ließ den Inhalt in seine linke Hand gleiten. Es handelte sich um zwei Pergamente, mit bräunlich schwarzer Tinte dicht beschrieben. Als Trevir den Inhalt der Schriften überflog, wurden seine Augen immer größer.
Das Gesetz der Triversalen Wellen, lautete der Titel der ersten Abhandlung, in der die Periodendauer und Schwingungsweite der Wellenbewegungen des Triversums erörtert wurde. Die dargelegten Fakten waren Trevir im Grundsatz bekannt. Aluuin hatte kurz vor seinem Tod über die zeitliche Abfolge zukünftiger Annäherungen der drei Welten gesprochen. Trevirs Hände zitterten, als ihm bewusst wurde, dass in der vergangenen Nacht die dritte Welle seines Lebens ihren Höhepunkt erreicht hatte. Nun erst wurde ihm klar, warum er die Kräfte des Triversums nicht immer genauso stark spüren und mit der gleichen Leichtigkeit lenken konnte.
Die zweite Schrift brachte sein Blut noch mehr in Wallung. Derselbe Autor – beide Manuskripte waren mit den Initialen »A. S.« versehen – hatte ihr den etwas sperrigen Titel Immo- und automobile Schwingungsknoten des Triversums gegeben. Bei dem, was jener A. S. da als »Schwingungsknoten« bezeichnete, handelte es sich im Wesentlichen um das Gleiche wie die von Aluuin beschriebenen Schwerpunkte der drei Welten. Der Verfasser des Aufsatzes plädierte für die Existenz von Örtlichkeiten, die im Wellengang des Triversums stillständen – so bezeichnete er die »immobilen Schwingungsknoten«, für die er auch gleich einige Beispiele anführte. Bei den »automobilen«, also selbstbeweglichen, handele es sich um Geschöpfe – vorzugsweise Menschen –, die zum Zeitpunkt einer großen Annäherung der drei Welten an einem immobilen Schwingungsknoten geboren würden. »Meiner unbewiesenen Meinung nach«, resümierte A. S. »müsste solchen Wesen der Schwerpunkt des Triversums innewohnen, was ihnen allerlei Beeinflussungen desselben ermöglicht, bis hin zu dessen Zerstörung…«
Trevir erstarrte. Das Blatt fiel zu Boden. Um wen handelte es sich bei diesem A. S.? Wer konnte solche tief gehenden Kenntnisse über die Natur des Triversums erworben haben? Doch nur ein Hüter des Gleichgewichts, oder etwa nicht?
»Abacuck«, flüsterte der junge Mann und sah mit glasigem Blick auf das am Waldboden liegende Pergament herab. Rasch hob er es wieder auf und betrachtete es mit großer Ehrfurcht. Die beiden Aufsätze bestätigten auf beklemmende Weise Aluuins Warnungen an seinen Schüler: Nie darfst du dich in die Gewalt von jemandem begeben, der das von dir Empfangene zu missbrauchen sucht. Es wäre womöglich das Ende nicht nur unserer Welt.
Wie war Molog an diese Manuskripte gelangt? Wenn sie tatsächlich von Abacuck stammten, dann mussten sie sich einmal im Besitz der von ihm gegründeten Bruderschaft befunden haben. Eine beunruhigende Ahnung bemächtigte sich des Pilgers von Sceilg Danaan. Noch einmal las er die Liste jener Orte, die der Verfasser der Aufsätze im Wortschatz des Gelehrten als »immobile Schwingungsknoten des Triversums« bezeichnet hatte. Die meisten Namen sagten ihm nichts. Aber die beiden Angaben gleich zu Beginn der Aufzählung brannten sich förmlich in sein Bewusstsein ein.
Unter der großen Kuppel in der Verbotenen Stadt, an der Blutquelle von Annwn…
In Annwn, wo sich dem Volksglauben nach das Tor zum Feenreich befand, war einst von Aluuin ein Findelkind entdeckt worden, das er hierauf zu seinem Nachfolger ausgebildet hatte. Und in der Verbotenen Stadt…? Wie hatte das Oberhaupt des Dreierbunds doch kurz vor seinem Tod gesagt? In der Stadt, die man die Verbotene nennt, hatte das Unheil begonnen.
»Ich muss dorthin!«, flüsterte Trevir. Es hatte keinen Zweck, hier zu bleiben und auf Molog zu warten. Der Herr von Zennor Quoit war gewiss längst aufgebrochen, um die Verbotene Stadt zu finden. Alles sprach dafür: die vergleichsweise geringe Truppenstärke der Burg; Mologs Kenntnisse der Gesetze des Triversums; das Massaker an den Mitwissern auf der Insel der Stürme, sein seit Jahren unbestrittener Eroberungswahn. Wo anders würde dieser brutale Mensch seinen Durst
Weitere Kostenlose Bücher