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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Rohr war in mehrere Segmente zergliedert, jedes etwa so lang wie Trevirs Zeigefinger, von seinem Nachbar durch einen erhabenen silbernen Ring abgegrenzt und mit dunkelbraunem, halb durchsichtigen Glanzlack ausgemalt, aus dem sich ovale Schmuckelemente metallisch schimmernd erhoben. Wie viele solcher Abschnitte letztlich die ganze Silberröhre bildeten, ließ sich nur erahnen, weil sie unter einem Berg von Pergamenten hervorragte. Solche Zylinder wurden gelegentlich zur Aufbewahrung, hauptsächlich jedoch zum schonenden Transport wichtiger Schriftstücke benutzt, weshalb man sie auch als Dokumentenhalter bezeichnete; dieser hier zeigte deutliche Spuren langen Gebrauchs. Aber Trevirs Aufmerksamkeit war nicht von dem Gegenstand als Ganzes gebannt worden, sondern von dem kleinen roten Symbol auf der Seite des Deckels, zu dem ihn die Kette geführt hatte: Es handelte sich um ein verschlungenes Band, das in der offenen Mitte ein Dreieck erkennen ließ, das Zeichen des Dreierbunds, ein Ebenbild des Feuermals auf dem Schulterblatt seines jüngsten Hüters…
    Ein Krachen vom Fuß des Turmes ließ Trevirs Kopf herumfahren. Er lauschte. Jemand hatte die störrische Tür aufgestoßen. Und jetzt trampelten zahlreiche Füße die Stufen herauf!
    Hektisch blickte sich Trevir um. Im Turmgemach gab es keine brauchbaren Verstecke. Seine Augen blieben an der Deckenluke hängen. Vielleicht konnte er von der Zinne an der Außenseite des Turmes hinabklettern.
    Mit zwei schnellen Sprüngen war er beim Tisch, riss den Dokumentenhalter unter den Pergamenten hervor und überquerte den zwitschernden Boden in Richtung Leiter. Rasch erklomm er diese und zog den Riegel der Luke zurück. Dann war er auf dem flachen Dach. Der Deckel flog wieder zu. Leider gab es auf dieser Seite keine Vorrichtung zum Verschließen desselben. Trevir rannte zur Brüstung und blickte nach unten. Im Burghof sammelten sich schwarze Krieger. Überall brannten Fackeln. Plötzlich hörte er ein helles Sirren und zog reflexhaft den Kopf ein, gerade rechtzeitig, denn ein Pfeil schwirrte nur zwei oder drei Fingerbreit an ihm vorbei.
    Trevir ließ sich flach auf den Boden fallen. So war er vor den Scharfschützen einstweilen sicher, da die Zinne des Burgfrieds hoch über den Wehrgängen lag. Aber dieser Vorteil bedeutete nicht mehr als einen Aufschub. Trevirs Blick sprang zum Verschluss der silbernen Röhre, die unter seinem Arm klemmte. Es war zu dunkel, um das rote Band zu erkennen. Er hätte ihren Inhalt zu gerne untersucht, aber diese Gelegenheit war wohl verpasst. Gleich würde man ihm seine Beute abnehmen. Es sei denn…
    Er spähte zwischen den Zinnen des Turmes zur Mauerkrone hinab, wo Bogenschützen aufgereiht standen, die nur auf ein Ziel warteten. Er kroch auf allen vieren zur gegenüberliegenden Brüstung. Dort sah er das schräge Dach eines Hauses, zu weit weg, auch viel zu tief, um hinüberzuspringen. Aber vielleicht nicht zu fern für einen geschickten Wurf.
    Wie von einer Feder getrieben schnellte Trevir nach oben, holte weit aus, schleuderte den Dokumentenhalter in Richtung Dach und ließ sich wieder fallen. Er hörte ein hartes Klappern, gefolgt von einem polternden Geräusch. Schnell blickte er durch den gezahnten Mauerabschluss und sah gerade noch, wie die Röhre über die Dachkante rollte, herab fiel und in den Schatten eines stillen Winkels verschwand. Wenn er Glück hatte und ihm die Flucht gelang, dann würde er den Dokumentenhalter dort vielleicht wiederfinden.
    Trevirs Hand umfasste den Beutel mit dem Blendpulver. Er zögerte. Was konnten seine Mittel bewirken? Er würde ein paar Männer außer Gefecht setzen, womöglich sogar aus dem Turm fliehen können, aber dann stünde er ohne Deckung im Innenhof. Die Bogenschützen würden ein Fest veranstalten, bei dem ihm die Rolle des Spickbratens zufiel.
    Die Klappe der Deckenluke flog auf. Ein gewaltiger Helm tauchte daraus auf, dann eine Hand mit einer Fackel und eine zweite mit einer Streitaxt. Der Krieger hatte sein Visier hochgeklappt und betrachtete argwöhnisch den jungen Mann, der mit dem Rücken an der Mauerbrüstung lehnte, ihm entgegenlächelte und jetzt sogar das Wort an ihn richtete.
    »Schönen guten Abend, werter Herr. Ihr habt eine ganz prachtvolle Aussicht hier oben. Aber jetzt würde ich doch gerne Euren Herrn sprechen.«
    Das Verlies war der trostloseste Ort, den er je gesehen hatte. Zumindest lebte Trevir noch. Sein Begehr, den Herrn dieser finsteren Burg zu sprechen, hatte ihm vermutlich

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