Die unsichtbare Pyramide
des jungen Hüters nicht viel anfangen und weil ihm das Thema ohnehin unbehaglich war, wünschte er seinem Gast einen guten Appetit und zog sich rasch zurück.
Im Laufe des Abends füllte sich die große Schankstube mit allerlei Gästen. Bald herrschte im Raum eine stickige Enge. Auch an Trevirs Tisch gab es keinen freien Platz mehr. Die Leute bestellten einen Krug Bier und tauschten Neuigkeiten aus. Eine Weile lauschte der Pilger von Sceilg Danaan hier und da in ein Gespräch hinein, aber abgesehen von den alltäglichen Sorgen der Menschen erfuhr er wenig. Zu fortgeschrittener Stunde stand er auf, schob sich den Dokumentenhalter unter den Gürtel, nahm Aluuins Stab zur Hand und strebte auf die Tür zu, die ihn auf den Hof hinausführte; die Gästezimmer befanden sich in einem Nebengebäude über den Ställen. Noch ehe er den Hinterausgang erreicht hatte, wurde es plötzlich unangenehm still.
Trevir spähte zum Eingang, wo sich gerade fünf schwarz gekleidete Krieger aufbauten und finster in die Schankstube blickten. Unwillkürlich zog er den Kopf ein. Das Gespräch über die Rekrutenfänger war ihm noch lebhaft in Erinnerung.
Der Wirt schob sich durch die eng stehenden Gäste hindurch zu Mologs Männern vor und fragte nach ihrem Begehr.
»Ist hier in letzter Zeit ein Fremder durchgekommen?«, erkundigte sich der Anführer, ein mittelgroßes Schwergewicht mit Halbglatze und einer eingedellten Stirn – vermutlich eine alte Kriegsverletzung. Trevir machte sich noch kleiner und strebte so unauffällig wie möglich weiter auf den Hinterausgang zu.
»Das Lockere Mundwerk ist ein Gasthaus, Herr. Da kehren ständig Fremde ein.«
»Wir suchen nach einem jungen Mann: höchstens zwanzig, schwarzes Haar, dunkle Augen, bronzefarbene Haut.«
Trevir glaubte zu sehen, wie im Kopf des Wirts ein Räderwerk zu arbeiten begann. Vermutlich ahnte er längst, wer da gesucht wurde, und hatte riesige Angst. Nach allem, was man von Molog und seinen Schergen hörte, konnten sie nur mit begeisterten Anhängern gesittet umgehen. Dagegen reagierten sie irritiert, wenn sie auf Zauderer, Bedenkenträger oder sogar Gegner stießen – als Krieger pflegten sie ihre Verunsicherung hinter Schwert- oder Axthieben zu verbergen. So gesehen war das Zögern des Wirtes schon eine mutige Tat. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen und sich einen Vorsprung zu verschaffen, stand Trevir wie angewurzelt am Hinterausgang und beobachtete, wie der Hausherr jetzt mit den Augen die Schankstube absuchte. Nach einer halben Drehung verharrte er.
Die Blicke des unglücklichen Wirtes und seines jungen Gastes kreuzten sich. Erschrocken sah Trevir zu dem Dellenkopf. Der Anführer des Suchtrupps hatte ihn entdeckt und rief: »Da ist er. Schnappt ihn euch!«
Endlich erwachte Trevir aus seiner Starre. Er riss die Tür auf, stürmte auf den Hof hinaus und blieb schlitternd stehen. Das große, von Fackeln notdürftig erhellte Rechteck war nur durch ein Tor zugänglich, welches sich unter einem Überbau neben dem windschiefen Haupthaus befand. Dort hinauszustürmen konnte gefährlich sein. Zu Trevirs Linken befand sich der Stall, rechts davon eine Scheune. Dazwischen versperrte eine hohe moosbedeckte Mauer die Flucht. Oder vielleicht doch nicht? Ein Stapel entrindeter Baumstämme zog Trevirs Aufmerksamkeit auf sich. Er rannte weiter.
Im Lauf bereitete er sich schon auf den Absprung vor. Von den obersten Stämmen müsste es gelingen, die Mauerkrone mit den Händen zu erreichen und sich dann hochzuziehen. Mit einem weiten Satz gelangte er bis zur Mitte des Stapels. Um seinem nächsten Sprung nach oben mehr Kraft zu verleihen, benutzte er Aluuins Stab als drittes Bein – und strauchelte.
Instinktiv riss Trevir die Hände nach vorn, um sich abzufangen. Der knorrige Stock war von den runden Stämmen abgerutscht und dazwischen stecken geblieben; fast hätte es Trevir den Arm ausgerissen. Während der Gestürzte noch gegen den Schmerz ankämpfte, sah er, wie der Stab hin und her zitterte, dabei immer kürzer zu werden schien, bis er schließlich ganz verschwand. Trevir erstarrte. Sein Blick sprang zur Tür – jeden Moment mussten dort die Verfolger erscheinen –, dann wieder zu der Lücke zwischen den Stämmen. Der Stab war sein kostbarster Besitz, sein einziges Andenken an Aluuin.
Trevir drehte sich um und kletterte wieder halb nach unten. Ein Blick zwischen die Baumstämme ließ ihn aufstöhnen. Er sah nur einen dunklen Spalt, aber keinen Stab. Verzweifelt ließ er sich auf
Weitere Kostenlose Bücher