Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
werden.
»Militärische Banden aus Amerika und Russland brachen in unser Haus ein und hörten nicht auf zu essen. Nicht eine Sekunde lang«, erzählte Carruthers. »Wir hatten Säcke mit je zweieinhalb Kilogramm Reis in unserem Keller, und sie haben sie gefunden. Sie öffneten die Säcke und aßen den Reis ungekocht, als wäre es eine Tüte Kartoffelchips. Ich hatte ständig Angst, dass sie wiederkommen und mich auffressen würden, wenn ich kein Essen mehr zu Hause hätte. Ich weiß mit Sicherheit, dass eine Frau außerhalb von Barrow von Amerikanern aufgefressen wurde. Sie haben sicher auch davon gehört. Wir nennen sie LL: ‚die lebenden Lebenden‘.«
Die lebenden Lebenden – das hat der Arktische Krieg also hervorgebracht.
Emily Hinton:
Coggeshall interviewte einen Army Ranger namens Michael Armstead, einen sogenannten »Superkrieger«, der unglaubliche fünfzig aufeinanderfolgende Dienstzeiten absolviert hat, eine Tatsache, die in seinem Rang heutzutage nicht ungewöhnlich ist. Armstead erklärt, dass viele Mitglieder der militärischen Banden aus Amerika nicht nur konvertierte Kollektivisten und Ehemalige sind, sondern darüber hinaus auch Langzeitveteranen wie er selbst. »Wir sprechen hier von Menschen, die Jahrzehnte ihres Lebens damit verbracht haben, an vorderster Front für unser Land zu kämpfen«, sagt Armstead. »Die Armee wird sie nicht einfach feuern, bloß weil sie eine Kriegsneurose entwickelt haben und nicht mehr dienen können. Der Großteil der Soldaten, die dreißig oder mehr Dienstzeiten abgedient haben, bekommt von der Armee freie Hand, um zu tun, was sie möchten. Ich weiß, wovon ich rede. Es heißt einerseits ‚Wir vertrauen dir‘ und andererseits ‚Wir wissen nicht, was wir sonst mit dir anstellen sollen.‘ Nun denken Sie einmal darüber nach, was es für die Psyche eines Menschen bedeutet, wenn er so lange Zeit kämpft und tötet. Ich kämpfe seit fünfzig Jahren, und ich bin relativ normal für meinesgleichen. Doch es gibt andere, die schon seit immer und ewig kämpfen und sich nicht vorstellen können, einen Tag ohne Blutvergießen zu leben. Aber sie sind physisch noch in der Lage, es durchzuziehen. Das sind die Männer, die plündernd durch Alaska und Skandinavien ziehen. Das sind die Männer, die ihre eigenen Armeen gegründet haben.«
Evan Bruni:
Man sieht Satellitenbilder, die die rasche Zunahme von Schiffen und Ölplattformen im arktischen Ozean in den letzten zehn Jahren zeigen. Die Boote und die Menschen vermehren sich exponentiell, als wären sie Pilzsporen. Und was noch viel schlimmer ist: Man sieht endlose Flecken im Meer, auf denen tote Wale, Eisbären und andere Meeresbewohner an der Oberfläche treiben. Es gibt das Bild eines russischen Flugzeugträgers, der sich durch ein Eisfeld voller toter Seelöwen pflügt. Ihre Bäuche liegen in der Sonne und wurden von dem faulen Gas, das sich im Inneren gebildet hat, aufgerissen. Man sieht, wie Möwen sich an dem Aas laben. Man sieht diese Unmengen an toten Tieren, und man denkt sich, dass sie gestorben sind, um Platz für uns zu machen. Es gibt keine Steine mehr, die noch umgedreht werden müssen. Es gibt keinen Zentimeter Land mehr, auf den noch nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt hat. Wir sind überall – und wir werden immer einsamer deswegen.
Als der Film vorbei war, warf Solara einen Blick auf meinen Drucker. Ich habe einen Laptop mit einer sauberen IP-Adresse. Damit drucke ich immer die neuen Dokumente für jene Klienten aus, deren Tod wir vortäuschten. Die offizielle Seite der US-Regierung, die ich verwende, um diese Dokumente zu erstellen, wird überwacht. Doch auf die fünfzigtausend ähnlichen Seiten aus Russland trifft das nicht zu. In meinem Drucker lag bereits ein nagelneuer Elektroauto-Führerschein für Katie Baker. Sie drehte sich zu mir um.
»Ist das hier verrückt?«, fragte sie.
»Was?«
»All diese Dinge, die du für mich tust. Ist das verrückt? Wir werden ohnehin bald alle sterben.«
»Du wärst erstaunt, was Menschen alles überleben können und wie viel davon sie überleben können.«
»Hast du Kinder?«
»Ich hatte einen Sohn. Er wurde bei einem Terroranschlag getötet.«
»Deshalb bist du also Euthanasie-Spezialist geworden.«
»Nein, ich bin Euthanasie-Spezialist geworden, weil ich den Job mag. Was ist mit dir? Hast du Kinder?«
Sie legte sich die Hand auf den Bauch und zeichnete damit einen kleinen Kreis.
Mir verschlug es die Sprache. »Verdammt noch mal, nein«, sagte
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