Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
vom Nachttischchen und setzte sie ihm vorsichtig auf. Er sah Alison an. Seine Stimme war sehr schwach.
»Sie sind eine hübsche Dame«, sagte er.
»Danke«, antwortete Alison. Sie flüsterte, als hätte sie Angst, dass jegliches laute Geräusch ihn in tausend Stücke zerspringen lassen würde.
Ich nahm Dads Hand. »Wir möchten vielleicht heiraten«, erzählte ich ihm.
»Gut. Das ist gut. Wo ist deine Schwester?«
»Sie ist eine Stunde später dran. Sie wird bald hier sein.«
»Okay. Ich kann warten.«
»Hast du es bequem?«
»Ja.«
»Bist du glücklich?«
Er leckte sich über die Lippen. »O ja. Es ist gut, so wie es ist, John.«
Ich legte David an den Rand des Bettes. Das Baby starrte Dad an, als wäre er ein neues Stofftier, von dem er noch nicht so genau wusste, ob er es mochte oder nicht. Dad sagte Hallo zu ihm. David sagte »baaaaaaa« und sah zu mir hoch.
Bald wird er ein Jahr alt. Wenn ich David ansehe, dann sehe ich ihn bloß so, wie er gerade ist. Ich kann mir nicht in Erinnerung rufen, wie er vor zwei Monaten ausgesehen hat, ohne ein Foto zu Hilfe zu nehmen. Die Erinnerung an das, was er war, wird nur allzu leicht von dem ersetzt, was sich direkt vor mir befindet.
Ich sah Dad an. Ich sah ihn, wie er jetzt gerade war: mager, zerbrechlich, dem Tod geweiht. Ich versuchte, mir sein Gesicht vorzustellen, wie es vor vier Monaten ausgesehen hatte. Ein Gesicht, das mir so vertraut gewesen war, dass es genauso gut eine Statue hätte sein können. Aber ich konnte es mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Ich sah bloß diesen zusammengesunkenen Mann vor mir. Der Krebs hatte das, was er einmal gewesen war, vollkommen ausgelöscht.
Dann kam Polly. Alison ging mit ihren beiden Jungs und David eine Pizza essen, während wir gemeinsam mit Toni bei Dad blieben.
Meine Schwester klopfte Dad sanft auf die Schulter. »Ich bin hier, Dad.«
»Gut.«
»Können wir dir irgendetwas bringen?«
»Nein. Es geht mir gut. Ihr seid alle hier. Das ist genug.«
Er ließ seinen Atem entweichen. Es dauerte eine Minute, während sein Geist seinen Körper verließ. Sein Schicksal lag nun in seinen eigenen Händen. Er öffnete die Augen, die Augäpfel hatten mittlerweile eine gelbe Färbung angenommen. Er nahm unsere Hände und spie seine letzten Worte aus. »Danke. Es ist gut, so wie es ist. Es ist gut, so wie es ist.«
Dann lehnte er sich zurück und ließ los.
Das war’s. Polly und ich saßen vierzig Minuten lang am Rand des Bettes, so regungslos wie der Körper in Dads Bett. Es ist seltsam, wenn jemand stirbt, den man liebt. Zuerst verbringt man seine gesamte Zeit damit, sich um ihn zu kümmern, und dann stirbt der Mensch und man hat plötzlich nichts mehr zu tun. Die Verpflichtung, die man gegenüber dem Menschen hatte, ist erfüllt. Man muss niemanden mehr trösten, keine Hände mehr halten. Es gibt bloß diese riesige, gähnende Leere, die sich befreiend und unnatürlich zugleich anfühlt.
Wir hörten, wie die Haustür geöffnet wurde und Alison und die Jungs zurückkamen.
Polly verließ schnell das Zimmer, um es den Kindern zu sagen. Ich ging hinaus ins Wohnzimmer und sah Alison an. David saß auf dem Boden und kaute auf einem Buch herum. Sie sah es an meinen Augen. Sie kam zu mir und vergrub ihr Gesicht in meiner Brust. Als wir vor einigen Wochen über das Heiraten gesprochen hatten, hatte ich ihr gesagt, dass ich mir sicher war, für immer und ewig mit ihr verheiratet bleiben zu wollen. Dennoch war im hintersten Winkel meines Gehirns ein kleiner Rest an Zweifel zurückgeblieben. Es hatte sich um den immerwährend männlichen Urinstinkt gehandelt, der uns vor allen Lebensformen, die der vollkommenen sexuellen Freiheit widersprechen, zurückschrecken lässt. Ich hatte die ganze Zeit auf Alison gewartet. In meinen wildesten Phantasien hatte ich von dem Tag geträumt, an dem sie endlich mir gehören würde. Und nun war es so weit. Sie gehörte mir. Nur mir. Niemandem sonst. Und das für immer, wenn ich es so wollte. Dennoch war das kleine Tier in meinen Gedanken sogar damit noch unzufrieden und sehnte sich nach Blondinen mit aufsehenerregenden Körpern und undurchschaubaren Beweggründen. Ich hatte mich gefragt, ob sich das jemals ändern würde.
Und das tat es. Während Alison mich umarmte und mein Dad am Ende des Flurs tot in seinem Bett lag, wurden die letzten Spuren des irrationalen Jungen in mir ausgelöscht. Er war fort. Es gab keinen Zweifel mehr. Ich wusste, was ich wollte.
Toni öffnete eine Flasche Wein
Weitere Kostenlose Bücher