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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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meistens er, der ihren Blutdruck maß, die Urinproben nahm und die Gesundheits-Checks vornahm, die dazu führen, daß die Menschen in diesem Teil der Welt mittlerweile so unfaßbar alt werden. Neben dem, was erihnen verschreiben konnte, konsumierten sie alle Variationen von Arzneimitteln. Jede Woche mußte Thomas Brenner in die Stadt und in großen Mengen Magnesium, Vitamin B, Vitamin C, Hagebuttenextrakt, Rosenwurzel und Schisandra besorgen. Im Winterhalbjahr zusätzlich Kan Jang und Sambucol. Als Schulmediziner hatte er den Nutzen dieser Präparate immer angezweifelt, diese aber trotzdem gekauft, weil sie ihn darum baten und weil sie seine Eltern waren. Und weiß Gott, dachte er, irgendwie hielt es sie am Leben, ob es nun die Nackenkoteletts von Matkroken waren oder der Wildlachs von Fjellberg, das Brot von der Åpent Bakeri oder das Vitamin B und die Rosenwurzel aus der Drogerie Frogner.
     
    Er war immer der letzte, der die Gemeinschaftspraxis verließ, obwohl er das gar nicht beabsichtigte. Mit der Zeit fand er Gefallen daran, daß er das Licht löschte, die Heizung justierte, die Stühle im Wartezimmer auf ihren Platz stellte. Da konnte er bestimmen, jedenfalls zu einem gewissen Grad. Das konnte er zu Hause nicht.
    Dabei hatte er gar kein großes Bedürfnis, zu bestimmen. Sogar wenn er Diagnosen stellen mußte, geschah das in größtmöglicher Offenheit, wenn er sich nicht absolut sicher war. Er wollte nicht autoritär auftreten. Das war in der Medizin ein leichtes. Es gab genügend selbstsichere Stümper. Ein solcher wollte er nicht sein. Die Medizin war eine Wissenschaft, mit deren Fortschritten man immer schwerer Schritt halten konnte. Deshalb verlangte der Beruf in erster Linie eine gute Portion Demut. Das dachte er fast täglich, wenn er vor schwierigen Diagnosen stand. Wieviel wußte er eigentlich von dem, worüber er sich äußern sollte? War das Arzneimittel Tambocor wirklich so gefährlich, wie man in den 90er Jahren glaubte, oder wares für Menschen, die an Herzjagen litten, eine Gabe Gottes?
    Er löschte das Licht und dachte, daß er Glück gehabt hatte, daß in seiner ärztlichen Tätigkeit bisher keine Fehldiagnosen bekannt geworden waren. Aber es war durchaus möglich, daß auch er sich eines Tages auf der ersten Seite der Illustrierten wiederfand, weil ihm ein fataler Fehler unterlaufen war, weil er nicht genügend Achtsamkeit gezeigt hatte. Und das machte ihm angst. Von Jahr zu Jahr mehr Angst.
    Dabei hatte er sich vorgestellt, mit zunehmendem Alter in diesen Dingen sicherer zu werden. Aber er war jetzt unsicherer als noch vor einigen Jahren. Und das betraf nicht nur das Fachliche. Es betraf auch die Art, wie er sich anderen gegenüber verhielt. Früher war er unsicher, wenn er etwas nicht daß er in diesem Leben nicht mehr soviel würde lernen können, daß die Bretter für seinen Sarg schon gehobelt waren, daß der Rahmen für sein Leben längst klar und sichtbar war, ohne daß das zu seiner Seelenruhe beitragen würde. Erst jetzt wurde ihm in vollem Umfang klar, wie schwierig dieses Leben war, wie gefährlich, wie ungerecht. Viele Jahre lang hatte er sich auf einer Insel des Glücks befunden. Er konnte nicht erwarten, daß das so weiterging. wußte, weil er das Gefühl hatte, daß er noch viel mehr lernen müßte, um Schlüsse zu ziehen und richtige Urteile zu fällen. Jetzt näherte er sich seinem sechzigsten Geburtstag, und er begriff, fühlte, spürte,
    Er ängstigte sich viel mehr um Elisabeth als um seine Mutter, denn der Gedanke, Elisabeth zu verlieren, war unerträglich. Er wollte ihn nicht einmal denken und schob ihn jedesmal weg, wenn er auftauchte. Vielleicht wirkte deshalb der Besuch von Mildred Låtefoss so beunruhigend auf ihn. Er zog sofort Parallelen zu seinem eigenen Lebenund obwohl es viele Jahre her war, dachte er jetzt wieder daran, daß er sich schon früher vorgestellt hatte, daß es Elisabeth Dahl eines schönen Tages einfallen könnte, von ihm zu gehen oder noch schlimmer plötzlich an einer ernsten Krankheit zu sterben, obwohl es damals keinerlei Anzeichen dafür gegeben hatte.
     
    Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle wirbelten all diese Gedanken in seinem Kopf durcheinander, und er wußte nicht, worüber er sich im Moment die meisten Sorgen machen sollte.
    Es blies ein herbstlicher Wind. Er kam direkt aus dem Westen und machte den Himmel klar und gelb und türkis zwischen dem Rot, das die Sonne hinter sich herzog, bevor die Dunkelheit und die Sternennacht

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