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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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wichtigsten Wolkenkratzer, die beim Näherkommen immer besser zu sehen waren.
    »Sears Tower«, sagte sie. »Water Tower.« Thomas fiel es immer noch schwer, zu verstehen, warum Elisabeth eine sostarke Beziehung zu dieser Stadt hatte, die in erster Linie für Geld und Macht stand, wofür Elisabeth sonst nur Verachtung übrig hatte. Entweder hatte es mit einer Spaltung ihrer Persönlichkeit zu tun, oder es gab Erlebnisse, von denen Thomas nichts wußte, die sie ihm verheimlicht hatte. Es war ein interessanter Gedanke, daß eine oder mehrere der Asienreisen, die sie früher unternommen hatte und bei denen sie sich nur selten meldete, eigentlich verdeckte Reisen nach Chicago gewesen waren. Vielleicht war es einem dieser Schriftstellerschurken gelungen, sie zu verführen und ein Innenleben lebendig werden zu lassen, das Thomas ihr nie hatte entlocken können. Zwar waren sie einmal zusammen im Kaukasus gewesen, aber bei ihren anderen Reisen konnte sie ihn durchaus hintergangen haben. Exotische Souvenirs gab es auch in Chicago genügend, davon war er überzeugt. Eigentlich hatte er nie etwas verstanden, dachte er. Er war zu Hause in seiner Arztpraxis gesessen und hatte kranke Menschen am laufenden Band behandelt und gleichzeitig versucht, seine Kinder großzuziehen. Es war nie Zeit oder Gelegenheit, nachzuforschen, was Elisabeth eigentlich trieb, und er hatte auch nie das Bedürfnis danach. Zwar hatte er gestutzt, als sie diesen Aushilfsjob bei Burlington Ltd. annahm, aber wirklich überrascht von ihr war er erst jetzt im Taxi, als er sah, wie hellauf begeistert sie vom Anblick dieser Wolkenkratzer war. So lebhaft sie auch wirkte, war sie doch ganz bei sich. Sie wollte etwas von dieser Stadt. Und wieder schien alles so offensichtlich: Sie war auf Pilgerfahrt zu Saul Bellow, aber sie war auch unterwegs zu ihrem ersten Roman.
     
    Aber darüber konnte er natürlich mit ihr nicht sprechen. Sie mußte selbst entscheiden, was sie erzählen wollte. Es würde ihn allerdings nicht wundern, wenn während dieserReise etwas an die Oberfläche käme. Ihm war aufgefallen, daß sie vor zwei Tagen bei der Feier das Gespräch mit den eingeladenen Autoren gesucht hatte. Nach all den Floskeln sehnte sie sich danach, mit jemandem ernsthaft zu reden, und dazu wählte sie die Autoren.
    Sie fuhren hinein in die Stadt, drangen erstaunlich schnell ins Zentrum vor. Die endlosen Vorstädte lagen im Norden und Süden. Von Westen her ließ sich die Stadt leichter erobern. Obwohl man sich zwischen diesen Häusern, wo auf wenigen Quadratkilometern einige der höchsten Wolkenkratzer der Welt standen, rasch sehr klein vorkam. Und auf der anderen Seite: Lake Michigan mit den eisigen Nordostwinden.
    »Ey, komm mit in meine Stadt, meine Sta…hadt, Sta…ha…hadt«, sang Line und schnippte mit den Fingern.
    »Wo wohnste nu?« parierte Annika sofort. Dann kicherten beide. Und im Nu waren sie vor dem Palmer House Hilton. Aber egal, wie groß und prächtig und altmodisch amerikanisch es war, es wirkte kleiner, als er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht war das zur Zeit das Problem der USA, dachte er, daß nichts mehr wirklich groß war. Weder die Präsidenten noch die Rockstars oder die Wolkenkratzer oder die Wirtschaft. Daß es dieser Handvoll Terroristen tatsächlich geglückt war, den Anspruch Washingtons zu zerstören: Nabel der Welt zu sein. Armut, Naturkatastrophen, wirtschaftliche und politische Unruhen hatten das Land dem Abgrund wesentlich näher gebracht. Aber von diesen Fakten ließ sich Elisabeth Dahl nicht beeindrucken. Sie war einfach nur entzückt und dankbar, in der East Monroe Street anzuhalten und zu sehen, daß Palmer House Hilton nach wie vor existierte, wie zu Bellows Zeiten.
    Und für Thomas Brenner konkretisierte sich jetzt dasGefühl, daß sie schon einmal hiergewesen sein mußte. Ihre fast verlegene Zurückhaltung im Flugzeug. Der kindische (und teure) Kauf der Kenzo-Schals. Als wollte sie betonen, daß sie diese Stadt nicht kannte und deshalb Verhaltensregeln treffen mußte.
    Der Gedanke löste allerdings weder eine Beunruhigung noch gar Eifersucht bei ihm aus. Was gewesen war, das war vorbei. Aber er beobachtete sie plötzlich bewußter als vorher und stellte fest, daß sie bereits auf dem Bürgersteig der übrigen Familie mitteilen konnte, daß die Rezeption sich nicht zu ebener Erde befand. Zwei muskulöse, dunkelhäutige Liftboys in burgunderroten Livreen halfen ihnen, das Gepäck hineinzutragen. Dann gelangten sie in den

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