Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
Sobald der Alkohol ins Blut ging, merkte er, daß die eigentliche Feier begann. Natürlich hätte er Business class spendieren sollen. Aber er konnte es sich nicht leisten, über hunderttausend Kronen allein für den Flug hinzulegen. Niemand sollte ihm oder Elisabeth vorwerfen, finanzielle Hasardeure zu sein.
    Jetzt aber waren Elisabeth und die Töchter eifrig dabei, die Shopping-Angebote von SAS zu studieren. Wie lange waren sie nicht mehr verreist, dachte Thomas. Wie lange waren sie nicht mehr richtig glücklich miteinander gewesen! Er spürte, wie er von einer tiefen Freude erfüllt wurde und zugleich von einer Dankbarkeit darüber, daß diese Familie solche Dinge erleben konnte. Das wäre nicht so leicht, wenn Annika wie ihr Onkel Andreas mit großer Familie im Vestlandet leben würde und Line als Mutter eines Kleinkindes in Midstuen. Und bei dieser Vorstellung fiel ihm die Mutter des kleinen Mädchens mit der Überdosis Schlafmittel ein. Verdächtig lange hatte er weder von der Mutter noch vom Ehemann etwas gehört. Irgend etwas mußte geschehen. Aber solange er in der Maschine nach Chicago saß, konnten sie ihm nicht gefährlich werden. Gerade jetzt, während er das Glas hob und den Töchtern zuprostete, konnte ihm gar nichts gefährlich werden. Er war nicht einmal in der Lage, sich Bergljot vorzustellen, wie sie auf ihrem Stuhl im Pflegeheim saß und gegen die Wand starrte. Er sah keinen Gordon, der zu Hause im Erker des Brenner-Hauses saß und nach dem Pflegedienstrief. Er dachte nicht an Kaare, der mit Janne in der oberen Etage saß. Und er ängstigte sich nicht um Tulla, der von Physiotherapeuten geholfen wurde, wieder gehen zu lernen. Als würde sich der Alkohol beruhigend auf sein Gewissen legen.
     
    Elisabeth und die Töchter hatten die Shopping-Angebote beiseite gelegt, alle drei hatten sich für einen Wollschal von Kenzo entschieden. Um diese Jahreszeit war es eiskalt in Chicago, denn der Wind blies vom Lake Michigan her. Aber es dauerte noch eine Weile, bis der Verkaufswagen durch die Kabine kommen würde. Zuerst gab es etwas zu essen. Unglaublich, welche Freude dieses kleine Tablett mit Plastikbesteck, Plastikbecher und Kantinenessen hervorrief: ein Gefühl von unendlichem Luxus. Annika hatte sich bereits in einen etwas älteren Actionfilm mit Uma Thurman vertieft, während Line, die die Trends besser kannte, sich einen der neuesten Hollywood-Filme herausgesucht hatte. Elisabeh blätterte in ihrem Roman von Bellow, stocherte im Essen und trank reichlich Rotwein. So entspannt hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen.
    Er fühlte sich glücklich. Er mußte sich nun auch mit etwas beschäftigen. Aber es ging nicht. Er hatte keine Lust, den Regenkönig von Bellow zu lesen, obwohl ihn Elisabeth darum gebeten hatte. Er war auch nicht konzentriert genug, eine Ärztezeitschrift zu lesen, die er im letzten Moment eingesteckt hatte, und Filme waren nichts für ihn. Er blätterte in der Herald Tribune , ohne daß ihn eine der Schlagzeilen anregte. Afghanistan, Irak, Iran und der Mittlere Osten auf jeder Seite. Selbstmordattentäter, Kämpfe, Atomdrohungen. Hillary Clinton überall, und bald würde Präsident Obama den Friedensnobelpreis erhalten. Was für eine Welt. Er fand sie nicht mehr, die Bereiche, die ihnin seiner Jugend erfüllt hatten. Konzentrationsbereiche, dachte er. Sie waren es wert, gesammelt zu werden. Aber wann hatte er das letzte Mal ein Buch gelesen? Und wann hatte er eine Sinfonie von Anfang bis Ende gehört?
    Die Kopfhörer! dachte er. Im Flieger hatten sie einen Kanal mit klassischer Musik. Pop und Jazz mochte er schon lange nicht mehr hören. Er fing an, alt zu werden, wie er zu Line sagte, jedesmal gegen ihre wilden Proteste.
    Nach dem Drücken einiger Tasten fand er Schumann. Nicht ganz ideal bei seinem Gemütszustand, aber hörenswert. Das Klavierkonzert mit der Französin Hélène Grimaud.
    Die Musik erfaßte ihn. Sobald er die Augen schloß, ging er darin auf. Er kannte sich wenig aus mit Musik, spürte aber die Autorität der Musik und der Pianistin, einen Sog, in dem sich unerwartet Räume der Stille und der Besinnung offenbarten. Er war kurz davor, einzuschlafen, da wurde die Musik von der Stimme des Flugkapitäns unterbrochen: »Gibt es einen Arzt in der Maschine?«
    Thomas Brenner öffnete die Augen, nahm sofort den Kopfhörer ab und gab einer Stewardeß, die gerade vorbeiging, ein Zeichen, erklärte, daß er Arzt sei.
    Elisabeth und die Töchter schauten ihn gespannt an. Was

Weitere Kostenlose Bücher