Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Höhe.
»Weiterfliegen«, sagte er zum Kapitän, der dankbar nickte und sofort wieder im Cockpit verschwand. Jeder hat seine eigenen Interessen, dachte Thomas Brenner auf einmal verärgert. Er verließ die liebenswürdige Dame und die Luxusatmosphäre der Business class, sobald er sicher war, daß das Nitroglyzerin wirkte.
Während er zu seinem Platz zurückging, hörte er die Durchsage des Kapitäns, daß die Situation geklärt sei, daß es der Patientin gutgehe, daß das Flugzeug den direkten Kurs nach Chicago einhalte, daß ein Applaus für den Arzt angebracht sei. Elisabeth und die Töchter lächelten ihm stolz zu. Sie klatschten ebenfalls. Er errötete vor Verlegenheit und Scham.
Für Thomas Brenner war die Freude an dem Flug verdorben. In den folgenden Stunden wartete er nur darauf, daß ihm die Stewardeß auf die Schulter tippen und sagen würde, nun sei es ernst, denn die alte Dame habe einen Herzinfarkt erlitten. Wie kurz sie waren, diese Sekunden, in denen man das Gefühl hatte, etwas unter Kontrolle zu haben. Ansonsten hatte man ja immer das Gefühl der Unzulänglichkeit. Aber niemand von der Crew verlangte nach ihm. Dafür bekamen er und die Familie Gratis-Champagner, als sie sich Chicago näherten.
Der Tag war zwei Stunden älter, als sie nach neun Stunden landeten, und Elisabeth mußte den Platz mit Thomas tauschen, um den Anflug sehen zu können. Dieser Flughafen, einer der belebtesten der Welt, spielte in Saul Bellows Büchern eine zentrale Rolle. Sie überflogen den Lake Michigan. Als die Maschine tiefer ging, konnte auch Thomas Brenner die Landschaft sehen, die Autobahnen mit all den Autos, endlose Kilometer menschlicher Zivilisation. Der große Amerikaner neben Elisabeth merkte nichts von ihrer Neugier und verdeckte fast die gesamte Aussicht mit seiner Ausgabe von USA Today . Auf dem ganzen Flug hatte er Bier und Kognak getrunken, und das lächerliche, blaue T-Shirt spannte über seinem Bauch und roch nach Schweiß. Thomas hätte ihm am liebsten die Zeitung weggenommen, aber die Töchter waren zwischen ihm und Elisabeth, und er ließ es bleiben.
Alle waren müde, als sie das Flugzeug verließen. Es hatte zu dämmern begonnen. In einer endlosen Schlange kamen die Flugpassagiere von den Gates hinein zum Terminal und konzentrierten sich auf die große Bewährungsprobe: die amerikanische Paßkontrolle.
Thomas und seine Familie blieben etwas zurück, und er konnte ein paar Worte mit seiner Patientin wechseln, die im Rollstuhl gefahren wurde und versicherte, daß alles in Ordnung sei. Ein herzlicher Abschied vom Kapitän, auch er war erleichtert. Diese Phase der Reise an einen neuen Ort war jedesmal die schlimmste, dachte Thomas. Die Phase, bevor man ins Hotel kam. Wenn noch alles fremd war.
Wieder in Amerika. Lange her seit dem letzten Mal, dachte er. Da waren die Töchter noch klein, und Bergljot und Gordon hatten auf sie aufgepaßt, während er undElisabeth in New York im Hilton-Hotel zu einem Ärztekongreß waren. Sie waren mit seinen Kollegen zusammengewesen und mit Elisabeths alten Bekannten vom Außenministerium, das enge Beziehungen zu Telenor pflegte. Der ungewöhnliche, kulturell interessierte Konsul Leikvoll veranstaltete in seiner Wohnung in der Fifth Avenue großzügige Empfänge, bei denen sich Menschen aus den unterschiedlichsten Kreisen trafen. Anschließend hatte er sie ins Village Vanguard mitgenommen, einen Jazzclub in Greenwich Village.
Thomas hatte es geliebt, mit Elisabeth zu verreisen, auch wenn sie die Mädchen nur ungern allein ließen. Aber damals waren sowohl Tulla und Kaare wie Bergljot und Gordon noch so rüstig, daß ihnen nicht einmal die Vorstellung eines Flugzeugabsturzes angst machen konnte.
Und jetzt waren sie zum erstenmal gemeinsam auf diesem krisengeschüttelten Kontinent, in der Heimatstadt Saul Bellows und des amtierenden Präsidenten. Brav stellten sie sich auf, um abgelichtet zu werden. Dann die Fingerabdrücke. Hier schlüpfte keiner durch. Und kaum hatten sie die Einreise und den Zoll hinter sich, tauchten sie ein in den Alltag Amerikas. Der unausgeschlafene, schwarze Taxifahrer, der sie willkommen hieß und alle in eines der üblichen, verbeulten und inzwischen auch lebensgefährlichen gelben Autos verfrachtete.
Annika und Line waren zum ersten Mal in den USA und sogen mit großen Augen die Eindrücke des Highways auf, bis sich im Osten plötzlich die Skyline Chicagos zeigte, die der von New York ebenbürtig ist. Elisabeth deutete auf die
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