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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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war los? Er zuckte die Schultern und stand auf, folgte der Flugbegleiterin nach vorne. Er überlegte, wie weit sie bereits über dem Wasser waren. Der Gedanke, nach Kopenhagen zurückfliegen zu müssen, war genauso schrecklich, wie Elisabeths Fest abzubrechen, weil Tulla einen Schlaganfall erlitten hatte. Daß er solche Gedanken hatte, bevor er überhaupt wußte, was passiert war, rief eine tiefe Beschämung bei ihm hervor. Damit war er selbst zu einem glänzenden Beispiel für die Selbstsucht und den Egoismus der westlichen Welt geworden. Denke immer zuerst andich selbst. Fing er tatsächlich an, sich seines hippokratischen Eides so unwürdig zu erweisen? Arzt sein bedeutete schließlich, bei jeder physischen Not oder Katastrophe einzugreifen, ohne an Vorteile oder andere Interessen zu denken.
    Sie saß in der Business class, und sie war alt. Sehr alt, dachte Thomas Brenner, als er sie erblickte. Eine von diesen umtriebigen Amerikanerinnen, vermutlich mit skandinavischen Vorfahren, auf dem Rückflug von einem Familientreffen in der alten Heimat. Sie bestand nur aus Haut und Knochen und war mit Goldschmuck behängt, das Haar geföhnt und gesprayt, so daß die künstlichen Locken hart waren wie Stahlwolle. Er hielt Ausschau nach anderen Ärzten, aber da kam niemand.
    War er der einzige Arzt unter den über zweihundert Passagieren? Das war natürlich möglich, gefiel ihm aber nicht. Der Kabinenchef erklärte, was geschehen war. Der Kapitän stand auch dabei. Die alte Dame war nach dem Essen aufgestanden, um im Gepäckfach über dem Sitz etwas in ihrer Tasche zu suchen. Sie habe fürchterlich herumgewühlt, sagte ihr Nebenmann, ein junger, dänischer Geschäftsmann mit aufgeklapptem Laptop. Nach einigen Minuten des Suchens hatte sie sich an die Brust gefaßt und war einfach zurück in den Sitz gefallen. Daraufhin hatte der Däne den Kabinenchef gerufen. Inzwischen war die alte Frau wieder aus ihrer Ohnmacht erwacht.
    »Angina pectoris«, sagte Thomas Brenner, und sein eigenes Herz pochte nach allen Seiten. »Sauerstoffmangel im Herzmuskel. Haben Sie Nitroglyzerin? Betablocker? Kalziumblocker?«
    »Nitroglyzerin«, sagte die Frau auf dänisch und deutete auf ihre Handtasche. Thomas atmete erleichtert auf. Also hatte er recht. Aber die Gefahr war nicht vorüber, eskonnte ja der Beginn eines Herzinfarkts sein. Schwer zu sagen, aber er mußte jedenfalls etwas unternehmen.
    Die alte Dame schaute ihn dankbar an. Diese sanfte, dänische Freundlichkeit. »Sie sind wahrlich im rechten Moment gekommen.«
    »Haben Sie diese Anfälle öfter?« fragte er.
    »Ja, immer öfter«, sagte sie.
    Man sollte sie nicht in ein Flugzeug setzen, dachte er, während sie die Tablette lutschte. Er mußte eine Entscheidung treffen. Seine ärztliche Verantwortung meldete sich, er konnte sie ja nicht im Flugzeug sterben lassen, nur damit Familie Dahl pünktlich nach Chicago kam.
    »Sie kennen sich selbst besser«, sagte er, während er ihren Puls kontrollierte und das Stethoskop und den Blutdruckmesser aus dem Notfallkoffer holte. »War das ein normaler Anfall?«
    »Kein Anfall ist normal«, sagte die alte Dame mit einem kleinen Lächeln. Ihm kam es fast so vor, als würde sie die Aufregung, die sie hervorrief, amüsant finden.
    »Sie verstehen vielleicht nicht, was ich meine«, sagte er. »Soll der Flug nach Chicago fortgesetzt werden, oder wollen Sie zurück nach Kopenhagen?«
    »Um Gottes willen nicht nach Kopenhagen«, sagte die Dame erschrocken. »Ich muß nach Chicago! Mein Enkelkind heiratet morgen!«
    Er nickte, horchte und kontrollierte. Er dachte an Elisabeth. Er vermutete, daß sie ihn verdächtigte, Tullas Schlaganfall erkannt zu haben. Aber sie hatte darüber kein Wort verloren. Er konnte jedenfalls diese alte Dame nicht allein lassen, wenn ein Herzinfarkt drohte. Er mußte sicher sein. Aber sicher war man ja nie, dachte er, besonders bei so alten Patienten. Sie hatte gesagt, daß sie fast neunzig Jahre alt war.
    Er durfte in ihrer Tasche kramen, um festzustellen, welche Medikamente sie sonst noch nahm. Marevan und Betablocker. Das beruhigte ihn. Ein freundlicher Mensch in einem gebrechlichen Körper. Unglaublich, wie genügsam die Seele werden konnte, dachte er. Der Kapitän, ein Norweger, stand unbeweglich da und wartete auf seine Entscheidung. Er war der Arzt, und er kam sich jedesmal so lächerlich vor, wenn er soviel Macht hatte, egal ob in seinem Sprechzimmer, im Krankenhaus, im Pflegeheim oder im Flugzeug in zehntausend Meter

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