Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Stadt, dachte er.
Als er in den großen Trainingsraum kam, wurde dieser Gedanke bestätigt. Schon bevor er die Glastür erreichte, hörte er das Summen. Der Raum war voll. Und das um sechs Uhr früh! Sie standen auf den Laufbändern und liefen wie verrückt, keuchten auf dem Crosstrainer oder strampelten auf Trimmrädern. Trainierten mit Hanteln. Frei war nur ein Climber hinten im Raum. Wie er genau diese Bewegung haßte, auch wenn sie besonders effektiv war. Wie durch tiefen Schnee stapfen oder wie im schlimmsten seiner Alpträume, wenn er von dem großen Haus hinauf zum Auto lief und die Räuber aus dem Osten ihn verfolgten. Er durchquerte den Raum. Niemand beachtete ihn. Jeder war ganz und gar in seiner eigenen Welt. Was trieb sie dazu? dachte er. Direkt nach dem Schlaf – Kopfhörer, laute Musik und Bewegung. Die Luft war zumSchneiden. Eine Stimmung der Verzweiflung. Wie in einem Käfig mit zu vielen weißen Mäusen. Der Kampf der Tiere um die Hamsterräder. Mißmutig stieg er auf den Climber und begann zu treten. Wie wenig Kraft er nur noch hatte! Das Herz schlug jetzt noch schneller und unregelmäßiger. Er wußte nicht einmal, ob das Trainieren gefährlich war, wenn man einen Anfall hatte. Aber er mußte ihn stoppen! Wenn nicht, würde man es ihm anmerken. Mangel an Achtsamkeit. Es würde eine Wand entstehen zwischen ihm und der Welt. Solange man Herzflimmern hatte, dachte man nur an das Flimmern. Man tat so, als würde man an etwas anderes denken, und dabei achtete man einzig und allein auf den unregelmäßigen Rhythmus irgendwo in der Brust.
Wer hatte eigentlich geschrieben, daß das Herz ein Organ der Seele ist? Wenn das Herz so lange Zeit unregelmäßig schlug, hatte er das Gefühl, jederzeit sterben zu können. Was wurde jetzt gerade im Blut aufgewirbelt? Wie viele Sekunden war er von einem Gerinnsel entfernt? John Gregory Dunne hatte keine Ahnung gehabt, daß er sterben mußte, als er mit dem Whiskyglas am Kamin saß, zwanzig Minuten bevor er starb. Thomas Brenner hatte es selbst erlebt, daß er Patienten Rezepte ausstellte, die dann am nächsten Tag starben. Die individuelle Dynamik der Krankheit. So unterschiedliche Dramaturgien. Die einen wurden von einer Sekunde zur andern aus der Bahn geschleudert, die andern waren jahrelang ans Krankenlager gefesselt.
Zehn Minunten hielt er es aus auf dem Climber. Dann gab er auf, schweißgebadet, machte ein paar einfache Übungen auf der Matte, trocknete sich mit den Handtuch ab, trank einige Gläser Wasser und nahm schließlich den Aufzug hinauf zum Executive Floor. Am Eingang hatte bereits die Concierge Platz genommen, eine strenge Person, die allein durch ihre Existenz den Raum in das Interieur eines Schwarzweißfilms verwandelte. Mit ihrer soliden Dauerwelle und der tadellosen Livree wirkte sie wie eine Figur aus einer Geschichte von Raymond Chandler, und er mußte an Bette Davis denken, an den »film noir«. Schon als sie ihm einen guten Morgen wünschte, wußte er, daß sie ihm helfen konnte. Er brauchte dringend Medikamente, Marevan und Tambocor, also Flecainid. Wie leichtsinnig, daß er sich diese Mittel nicht aus Norwegen mitgebracht hatte. Aber dazu war keine Zeit gewesen, und er hatte nicht damit gerechnet, daß der Anfall so lange dauern würde.
Er setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Concierge-Tisch und erklärte dieser Mrs. Schwartz, wie das Namensschild am Kragen verriet, daß er Marevan brauchte, außerdem Athrombin-K, Coumadin, Panwarfin oder wie zum Teufel man diese Mittel in diesem erzkapitalistischen Land nannte, wo es sicher eine Vielzahl von Pharmafirmen gab. Außerdem Flecainid, das in Norwegen Tambocor hieß und in den USA irgendeinen anderen Namen hatte. In jedem Fall war es ein Antiarrhythmikum. Er sagte, daß er Arzt sei, daß er ihr die nötige Bestätigung dafür geben könne, er habe sie im Zimmer, aber es sei eilig.
Mrs. Schwartz nickte, als seien ihr die Namen all der Mittel, die er aufgezählt hatte, vertraut. Dann bückte sie sich zu ihrer Tasche.
»Ich kann Ihnen jetzt sofort mit Flecainid aushelfen, weil ich das Medikament selbst einnehme. Schwieriger wird es mit Panwarfin. Das zu besorgen dauert ein bißchen. Wie viel Flecainid brauchen Sie, mein Herr?«
Er hätte ihr vor Freude um den Hals fallen können. Und wie alle Flimmerpatienten hätte er sie am liebsten nach ihrer Krankengeschichte und ihren Erfahrungen gefragt.Aber etwas an ihrer Ausstrahlung, diese klare, feminine Würde, hinderte ihn daran. Statt dessen
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