Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
anbrachen. Die Blätter fielen von den Bäumen. Er genoß den Herbst, verspürte aber gleichzeitig etwas Wehmut. Die Straßenbahn stand bereits an der Haltestelle. Es überraschte ihn, daß er beinahe zu spät gekommen wäre, gewöhnlich war er immer frühzeitig da.
Er wußte, daß sich Elisabeth immer in den ersten Wagen setzte. Die Straßenbahn zu nehmen war eine Form von bürgerlichem Luxus, fanden wenigsten Elisabeth und er. Das Ganze war ein bißchen altmodisch, und beide konnten sich noch erinnern, wie sogar König Olav während der Ölkrise mit der Straßenbahn fuhr, um in der Nordmarka Ski zu laufen. Die Holmenkollbahn war für sie das beste Fortbewegungsmittel, die Arztpraxis lag ebenso auf dieser Linie wie das Dahl-Haus und das Brenner-Haus. Sie brauchten nicht ständig mit schweren Geländewagen herumzukurven. Der ganze Holmenkollhügel war bevölkert von feinen Damen, die einst in Davy-Crockett-Pelzmützen herumliefen, aber jetzt mit flatterndem, pornoblondem Haar zwischen Therapie-Instituten, Boutiquen, Kindergärten, Schulen, Skiloipen und Lebensmittelgeschäften hin- und herhetzten. Dafür war der Holmenkollhügel nicht geeignet. Die Straßen waren zu steil und schmal, und im Winter fuhren sich auch Geländewagen im Schnee fest. Und jetzt herrschte ohnehin überall Chaos, weil Oslo 2011 die Skiweltmeisterschaft ausrichtete und Straßen und Schienenwege verlegt werden mußten.
Thomas Brenner dachte oft daran, wie sich seit König Olavs Zeiten die Einstellung verändert hatte. Es bedeutete nach wie vor etwas Besonderes, am Holmenkollhügel zu wohnen, aber inzwischen wohnten hier immer mehr mit geliehenem Geld. Sie waren jung und oft gutaussehend und elegant gekleidet, aber in ihrem Auftreten hektisch, fast aggressiv. Viele von ihnen, sowohl Frauen wie Männer, rasten mit Fahrrädern in irrsinnigem Tempo die Straße hinunter und schnauften wieder nach oben und grüßten nicht einmal ihre nächsten Nachbarn.
Sie lebten in schrecklichen Wohnanlagen, häufig Reihenhäuser, die man in Rekordzeit hingestellt hatte. Bautechnische Mängel waren vorprogrammiert, und Wasserschäden durch Rohrbruch und faulendes Holz brachten die jungen Väter und Mütter zur Weißglut. Thomas Brenner hatte sie dann in der Sprechstunde, und meistens war es der Blutdruck. Sie schluckten die Tabletten, die er ihnen verschrieb, als seien es Drops, und sie benutzten ihn als Seelentröster, wenn sie ihm lang und breit von dem Parkett erzählten, das aufgerissen werden mußte, und von Fenstern, die zersprungen waren. Sie waren nicht achtsam oder bewußt im gegenwärtigen Augenblick. Sie waren in einem Strom von Gedanken, Wünschen und Begehrlichkeiten, der sie wie ein Wasserfall fortspülte. Sie waren auf täglichen Einkaufstouren, denn es fehlte immer etwas.
Und wenn sie von der materiellen Wirklichkeit im Stich gelassen wurden, bekamen sie Wutanfälle wie kleine Kinder. Es kam vor, daß junge Frauen heulend in seinem Sprechzimmer saßen, weil die Waschmaschine kaputtgegangen war oder ihr Geländewagen einen kleinen Blechschaden hatte. Ihre Welt war äußerst brüchig, aber war es seine nicht auch, dachte er, als er Elisabeth und Annika im ersten Wagen entdeckte. In der neuen Übergangsjacke, die Annika zum Geburtstag bekommen hatte, wirkte sie enorm groß. Es gab kein Kleidungsstück mehr, in dem sie gut aussah. Dabei war sie einmal hübsch gewesen, hatte Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und Großmutter. Die gleiche fein geschnittene Nase wie Bergljot, Elisabeths dunklen Blick.
Elisabeth war ja die Intellektuelle, hatte neben Kommunikationswissenschaften und Soziologie auch Literatur studiert, hatte sogar eine Novellensammlung geschrieben, die bei keinem Geringeren als dem Gyldendal-Verlag erschien, bevor sie »die Welt entdeckte«, wie sie sagte, und bei Telenor, einem sogenannten dynamischen Unternehmen, verschwand, wo sie sich von der Informationsabteilung ins Auslandsressort hocharbeitete, wie sie es nannte, und dort eine solche Koryphäe wurde, daß sie dachte, sie könnte kündigen und würde später jederzeit wieder eingestellt, was aber nicht eintraf und dazu führte, daß sie nach kurzer, erfolgloser Jagd nach einem Halbtagsjob eine Stelle bei Burlington Ltd. annahm, einem amerikanischen Finanzhai der schlimmsten Sorte, der einfache Leute mit Kredit-und Versicherungsangeboten um ihr Geld brachte und während der Krise im Vorjahr beinahe untergegangen wäre, was vielen Geldhäusern widerfuhr, nicht aber Burlington Ltd., weil
Weitere Kostenlose Bücher