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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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genießt!«
    »Und es wird noch schlimmer werden«, sagte Thomas. »Wir erzeugen eine Welt von Behinderten und halten sie künstlich am Leben.«
    Annika sinnierte. »Erinnerst du dich noch, Papa? Großmutter sagte immer, daß wir zu alt werden. Glaubst du, siedenkt jetzt auch so? Weil sie ins Pflegeheim soll? Glaubst du, sie glaubt wirklich, daß sie zu alt ist, daß sie lieber sterben möchte?«
    »Nein«, sagte Thomas. »Ich kenne sie gut. Sie ist beinahe neunzig, aber sie möchte nicht sterben.«
    »Keiner von uns möchte sterben«, sagte Annika. »Und wenn ihr sterbt, werde ich euch gewaltig vermissen.«
     
    Sie starrte vor sich hin. Thomas fing den Blick einer grauhaarigen Dame am Nachbartisch auf. Der Mann sah alt und krank aus. Hatte sie das Gespräch mitbekommen? dachte er. Hatte sie sie beobachtet, und wenn, was hatte sie gesehen? Eine Familie, die hoffnungslos verstrickt war in ungelöste Konflikte, in untergründige Spannungen? Ihm kam es vor, als könne er sie alle drei von außen betrachten, so wie er Familien in seiner Arztpraxis sah, die nach außen ebenso charmant wie hoffnungslos wirkten. Obwohl Annika erwachsene und reflektierte Ansichten vertrat, war sie immer noch ein Kind, und im Alter von sechsundzwanzig Jahren zeigte sie keinerlei Anzeichen, in ihrer Entwicklung einen Schritt nach vorne zu machen.
    In diesem Moment griff Annika zu ihrem iPhone, das sie zum Geburtstag bekommen hatte. Das war das Zeichen, daß sie sich aus dem Gespräch abmeldete. All das Gerede über den Tod wurde ihr sicher zuviel. Er wechselte einen vielsagenden Blick mit Elisabeth.
    Sie wußten beide, wohin Annika jetzt verschwand, auf ihre eigene Facebookseite, wo sie dreiundzwanzig Freunde hatte, darunter all die Cava-Trinker von den Ausstellungseröffnungen oder Leute, mit denen sie gechattet hatte, ohne sie jemals gesehen zu haben. In Sekundenschnelle verwandelte sie sich in eine Achtjährige, eine ewige Achtjährige, dachte er, wie so viele der heutigen Jugendlichen kindlichwirkten, aber das waren sicher nur seine Altmännergedanken. Bald würden sie Line im Tanzinstitut sehen. Die Sprache dieser Generation konnten weder er noch Elisabeth dechiffrieren, das war ihm schon lange klargeworden. Aber auf einmal ärgerte es ihn gewaltig, daß seine Tochter hier saß und mit diesem Ding spielte. Sie wirkte dann noch hoffnungsloser. Und er wollte ja nicht, daß sie hoffnungslos war! Schwach und ängstlich wie so oft. Er wollte, daß sie lachte und ihren befreienden Sarkasmus zeigte.
    Er schaute auf die Uhr. Die Zeit für das Tanzinstitut rückte näher. Vielleicht war jetzt eine günstige Gelegenheit, zu erzählen, was Mildred Låtefoss eigentlich gewollt hatte. Es würde ihm nicht gelingen, das sehr lange geheimzuhalten. Vor diesen zwei Frauen hatte er keine Chance, etwas zu verbergen. Die Familie stand ihm am nächsten, das war immer so gewesen. Bei Saufabenden mit Kollegen kamen keine Wahrheiten ans Licht. Die Wahrheit mußte daheim im Dahl-Haus gesagt werden, aber auch dort hatte sich dieses unbefriedigende Gefühl aufgebaut, daß immer etwas unter den Teppich gekehrt wurde. Daß Annikas Situation, die auf Dauer unerträglich war, und das schon seit Jahren, nicht thematisiert wurde, weder von Elisabeth noch von ihm oder von den Alten in der oberen Etage. Vor allem, um Annika aus ihrer Facebook-Hölle zu holen, sagte er:
    »Es sieht so aus, als sollte ich eine Auszeichnung bekommen.«
    »Was sagst du da, Papa?«
    »Eine idiotische Auszeichnung. Einen Orden. Völlig unverdient.«
    Er erzählte, warum Mildred Låtefoss eigentlich gekommen war. Oder was sie zum Vorwand nahm, wie Elisabeth Sekunden später sagen sollte, als sie verstanden hatte, worum es bei dem Gespräch in der Arztpraxis gegangenwar. »Aber ich verdiene ihn ja nicht«, sagte er. »Das ist völlig absurd. Und ich möchte nur raus aus dieser Sache. Schon der Gedanke, eine Dankesrede halten zu müssen, weil einem der königliche Verdienstorden in Gold oder Silber verliehen wird, erscheint mir nur peinlich und idiotisch. Ich weiß ja nicht, wofür ich ihn bekomme, und ich weiß nicht, wofür ich danken soll.«
    Annika legte das iPhone beiseite und schaute ihren Vater vielsagend an. »Bist du blöd oder was?« sagte sie. »Man will sich doch nur schmücken mit dir. Natürlich nimmst du ihn an. Und in der Zeitung wird es sicher auch stehen.«
    »Als kleine Notiz«, sagte Elisabeth, die offenbar die Ambivalenz ihres Mannes besser verstand. Die Tochter warf der Mutter

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