Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Tür des Wohnblocks, in dem sie wohnte, auf. Ihre Wohnung lag im vierten Stock. Annika und Marit Salvesen nahmen den Aufzug, die anderen stiegen die Treppen hinauf.
Er stellte fest, daß Line nicht verstimmt war. Genügte ihr tatsächlich, daß nur die Familie und ihre Ballettlehrerin zum Absacker kamen? Beim Treppensteigen merkte Thomas, daß Elisabeth schnell außer Atem geriet. Ihm fiel wieder der Knoten ein. War der Krebs etwa schon in fortgeschrittenem Stadium? Saß er bereits in der Lunge? Im vierten Stock roch es intensiv nach gebratenen Zwiebeln, aber das mußte die andere Wohnung sein. Annika und Marit Salvesen standen schon da und warteten, und Thomas sah, daß die Tochter vor ihrer Wohnungstür eine alte Lampe stehen hatte. Nicht gut, dachte er. Sie sollte derlei nicht herumstehen lassen. Als würde sie seine Gedanken lesen, sagte sie: »Papa, kannst du diese Lampe gelegentlichfür mich entsorgen?« Natürlich hatte keines der Mädchen einen Führerschein. Und es war traurig, festzustellen, daß das natürlich so war, dachte er. Vor all ihren Mänteln, Jacken und Umhängen mußte Lines winzige Garderobe kapitulieren. Wie hätte es ausgesehen, wenn auch noch ihre sogenannten Freunde mitgekommen wären?
Der Geruch von Line schlug ihm entgegen. Lines Seife, Lines Kleider, Lines Parfüm. Hier lebte sie ihr Leben, in einer fast fünfzig Quadratmeter großen Wohnung, die ihr gehörte, die aber die Eltern abzahlten.
Er zog die Schuhe aus wie die anderen auch und sah, daß die Tochter zwanzig Gläser bereitgestellt hatte, zwanzig Gläser auf der Anrichte. Also hatte sie damit gerechnet, daß viel mehr kommen würden. Übles Pack, dachte er. Gefühlloses, übles Pack. Dazu hatte sie haufenweise Chips und Erdnüsse in Schalen verteilt. Annika würde sicher hemmungslos zuschlagen, aber es war die Ballettlehrerin, die als erste zugriff und sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund stopfte und zerkaute. Sie war schlimmer als Annika, und so was sollte eine Balletteuse gewesen sein.
»Seid ihr hungrig?« sagte Line und starrte vielsagend auf Marit Salvesens Mund. »Ich habe leider nichts anderes als das hier.«
»Ist in Ordnung«, sagte die Ballettmeisterin mit so vollem Mund, daß die Erdnußkrümel auf das edle Parkett bröselten. Sehnsüchtig schaute sie auf die leeren Gläser. Line eilte zum Kühlschrank.
»Wirklich schön hast du es hier, Line!« sagte die Ballettmeisterin und ließ ihren Blick von den Erdnüssen am Boden durch das Zimmer schweifen. Thomas war es unerklärlich, daß die Tochter sich eingerichtet hatte wie die meisten ihrer Generation. Fast keine Sitzgelegenheiten, nur weiße Wände, die billige IKEA -Reproduktion einerPhotographie von New York, die unvermeidliche Klippan-Couch und einige Stühle, schamlose Bauhausimitationen. Ähnlich sah es in der Küche aus, und das Schlafzimmer wagte er sich nicht vorzustellen. Konnte man in dieser Umgebung leben? Mußte sie hier nicht ständig frieren? Solche Wohnräume wurden regelmäßig in den Wohnbeilagen der Wochenendzeitungen abgebildet. Kapitalismus als Konformität. Thomas Brenner fröstelte. Er wußte, daß Line wußte, was er dachte. Sie ist nicht so, dachte er. Aber sie war genau so. Genauso fantasielos. Genial waren ihre Vestkantpakistani . Sie hatte noch nie etwas so Lebendiges und Witziges gemacht.
Und das zu feiern waren sie hier, rief er sich zur Ordnung, während die Tochter den Kühlschrank öffnete und einen Cava herausholte. Er wollte ihr helfen, aber sie wehrte ab, löste den Korken und schenkte ohne weitere Umstände sofort die Gläser voll. Gleich darauf prosteten sie sich zu.
»Ein Hoch auf die Vestkantpakistani !«
Marit Salvesen ergänzte sofort: »Ein Hoch auf das Tanzinstitut!«
Aber die Brenners standen bereit, sie zu übertönen. Jetzt ging es um Line. Thomas verspürte das Bedürfnis, eine Rede zu halten. Aber das würde lächerlich wirken, eine Rede vor der eigenen Familie und einer Ballettmeisterin, dachte er. Er hätte Line nur so gern richtig gefeiert.
Der Cava war zu süß. Es gab Dinge, die würden Line nie gelingen, und dieser Abend bewies das auf groteske Weise, denn fachlich gesehen war er ihr größter Triumph, sozial gesehen aber offensichtlich eine Niederlage. Fünfzehn Gläser standen unbenutzt auf der Anrichte. Fünfzehn Freunde hatten im letzten Augenblick abgesagt. Ach, das war unerträglich. Aber jetzt wurde sie immerhin geehrt,wurde über die Vorstellung gesprochen, wie frisch und frech sie gewesen sei.
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