Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
bestimmten Zeitpunkt, fast nicht mehr dasein. Nichts von dem, was einmal wichtig war, sollte noch eine Bedeutung haben. Man möchte vergessen werden.
Aber fing man nicht in dem Moment an, das Leben einzupacken? Und welches Leben sollte man in diesem Fall leben? Die Alten waren ja absolut nicht bereit, zu sterben. Er hatte sie jeden Tag in seiner Praxis. Vielleicht hatten sie das Gefühl, immer noch gebraucht zu werden? Viele von ihnen waren stolz darauf, daß sie so alt geworden waren, daß fast alle der Schulfreunde tot waren, daß nur sie übrig waren. Diese Aussagen kamen oft in einer seltsamen Tonlage, als könnten sie sich nicht entschließen, ob sie Trauer oder Triumph artikulieren wollten. Sie wollten in jedem Fall leben. Sie waren genauso ängstlich wie Kinder, wenn sie krank wurden. Sie bewachten ihre Arzneien, als handle es sich um Goldschätze. Wenn etwas nicht normal war, fragten und bohrten sie. Sie wollten an die Hand genommen werden, beanspruchten immer die volle Aufmerksamkeit und wurden zornig oder bitter, wenn sie die nicht bekamen.
Er erhob sich von seinem Platz zusammen mit Annikaund Elisabeth und allen andern. Dieser rührende Drang, Bewunderung zu zeigen. Man erhob sich jetzt bei allen möglichen Anlässen, schlechten Weihnachtskonzerten, unverständlichen Vorträgen, schwachen Ballettvorführungen. Er wußte im tiefsten Innern, daß das, was er gesehen hatte, nichts Besonderes war, obwohl er aus vollem Hals »Bravo!« schrie.
Annika ging noch weiter. Sie rief: »Bravo, Line!« Sie wollte ihrer Schwester so viel Applaus geben wie möglich. Nur Elisabeth stand einfach da und klatschte. Das war typisch für sie. Elisabeth Dahl hatte nie die Beherrschung verloren. Sogar in Rußland bei den Wodkapartys bewahrte sie ihre Würde. Sie tanzte keinen Halling als Reaktion auf eine fantastische kaukasische Tanzeinlage. Wenn man sich zuprostete, hob sie nie das Glas am höchsten. Sie ließ sich höchstens zu einem Lied hinreißen, das sie mit glockenheller Stimme sang. Sie war nie sturzbetrunken, machte selten etwas, was sie bereute.
Trotzdem war sie ganz bei der Sache, wie jetzt. Sie klatschte für Line und all die anderen. Sie stand da solidarisch mit allen im Saal, aber ohne wilde Schreie auszustoßen wie die Börsenmakler und Mittelfeldspieler um sie herum. Und einer davon stieg tatsächlich mit einer Magnumflasche Champagner auf die Bühne. Er begann sie zu schütteln, wie es die Formel-1-Fahrer nach gewonnenem Rennen immer machen. Den Mittelfeldspieler sah man ihm deutlich an. Er umarmte seine Tochter, als wolle er die Rolle des amerikanischen Präsidenten spielen, um gleich darauf wieder zum Rennfahrer zu werden. Er schüttelte und schüttelte, hatte den Korken schon vorher gelockert, und plötzlich spritzte es, ohne daß die Tänzer, Line oder die Direktorin darauf gefaßt waren. Einigen der Mädchen spritzte der Champagner ins Gesicht, was sie gar nichtmochten. Sie schrien abwehrend, aber der ekstatische Papa lachte nur und legte den Arm siegessicher um seine Tochter, der Größten und Hübschesten des ganzen Ensembles. Thomas Brenner erkannte ihn plötzlich wieder. Er wußte, daß es irgendein Börsenmakler war und daß er ein Prostataproblem hatte, obwohl er erst vierzig Jahre alt war. Die jungen Tänzer, die der Champagnerstrahl nicht getroffen hatte, fanden es nur lustig. Sie gehörten einer anderen Zeit an. Bald machte die Flasche die Runde, und alle tranken, sogar Line. Schweinegrippe, dachte Thomas und wußte, daß es zwecklos war. Ja, so verrückt war die Welt geworden. Aus ihm war ein alter, mürrischer Mann geworden, unfähig, diese lustige Stimmung zu teilen. Und er sehnte sich nicht einmal danach, wollte keine Erneuerung oder das Gefühl, jugendlich zu sein.
Das Ensemble auf der Bühne löste sich auf. Einige der Tänzer packten ihre Sachen und gingen, aber Line kam mit ein paar Freunden an und wand sich vor Freude, wenn ihr von allen Seiten Komplimente zugerufen wurden. Sie wußte, daß sie gut gewesen war. Die Augen strahlten. Thomas Brenner machte sich von jeher Sorgen über den mentalen Zustand der Töchter, und Line neigte ebenso wie ihre Schwester dazu, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt zu sein, vielleicht sogar in stärkerem Maße. Unmittelbar nachdem Line in die Wohnung im Parkveien gezogen war, hatte sie eine manische Periode gehabt, und da hatte er versucht, mit ihr zu reden. Sie solle doch vielleicht etwas Lithium nehmen, und die sind ja nicht gerade harmlos.
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