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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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ihren unschuldigen Gesichtern. Draußen vor der Haustür blinkte das Martinshorn des Krankenwagens.
    Sie überprüften den Verband, und er berichtete, was passiert war. Die Gefahr neuer Blutungen war gering, aber nicht auszuschließen.
    »Ich fahre mit«, sagte Thomas Brenner. Das war ein Befehl.
    Sie lag jetzt auf der Bahre, etwas verwirrt von dem, was passiert war, und sicher erschöpft von der Tanzvorführung und dem Cava danach. Er saß neben ihr und strich ihr sanft über den Kopf.
    »Das wird schon wieder«, sagte er.
    »Aber ich kann vielleicht eine Weile nicht tanzen?«
    »Natürlich kannst du tanzen. Mach dir keine Gedanken, du bist bald wieder auf den Beinen.«
    In diesem Moment hatte er keine Angst um sie. Wenn nichts geschah, dann war er krank vor Angst, wenn er sie längere Zeit nicht gesehen hatte. Aber jetzt war er der Arzt, und da aktivierte er alle zerebralen Teile seiner Persönlichkeit. Jetzt war er der Fachmann, der einschätzte und beurteilte, wie er es Tag für Tag gewohnt war. Da fielihm ein: Line war nicht irgendeine seiner Patientinnen. Sie war seine Tochter! In dem Moment hielt der Krankenwagen vor der Notaufnahme. Er konnte nun nichts mehr tun, aber natürlich ließ er sie jetzt nicht allein, obwohl er sich plötzlich sehr müde fühlte und ihm von zuviel Chips und Cava auf das schwere indische Essen übel war. Er drehte den Kopf weg von der Tochter und rülpste. Der Geschmack nach halbverdautem Masala.
     
    Das routinierte Personal der Notaufnahme stand bereit, die Verantwortung verteilte sich. Sie rollten Line in dieses Gebäude, das er so gut kannte. Er mochte die Atmosphäre in der Notaufnahme, das Gefühl, sofort etwas tun zu können, manchmal sogar Lebensretter zu sein. Ein iranischer Arzt gab ihm die Hand. Thomas Brenner sagte, wer er war. Der Arzt nickte respektvoll. Die Iraner sind in der Regel klar und direkt, dachte er. Kein unnötiges Gerede. Direkt zur Sache, ohne unhöflich zu sein. Er gab auch Line die Hand, die sich von der Trage aufrichtete. »Dummes Versehen«, sagte sie. »Nur eine harmlose Cavaflasche.«
    »Die können ganz schön gefährlich werden«, sagte der Arzt und lächelte.
    »Ich lasse euch allein«, sagte Thomas Brenner.
    »Nein, bleib hier, Papa.«
    Der Iraner verstand sein Handwerk, wußte, was er zu tun hatte. Sie waren sofort an der Reihe. Draußen im Wartezimmer saßen noch andere Patienten mit Schnittwunden. Das Gesundheits-Norwegen ist eine Klassengesellschaft.
    Der Schnitt verlief quer und nicht längs wie bei den wirklichen Selbstmördern. Trotzdem merkte Thomas Brenner, daß der Arzt vorsichtig war, daß er die Stimmung zwischen Vater und Tochter erfassen wollte. Rasche Blicke.Wiederholt die Frage, was eigentlich passiert sei. Dreimal erzählten sowohl Line wie Thomas Brenner von der Flasche und dem abgebrochenen Hals. Als der Arzt fertig und die Schnittwunde nach allen Regeln der Kunst versorgt war, nickte er und fragte, was die beiden jetzt vorhätten. Thomas erklärte, daß er seine Tochter nach Hause bringen werde.
    Er fühlte sich plötzlich wie bei einem Verhör. Die verdächtige Tatsache, daß der Schnitt an der für Selbstmorde typischen Stelle saß. Wenn er überlegte, war es tatsächlich verwunderlich, daß die Flasche sie genau an der Stelle verletzt hatte. So wie sie die Flasche gehalten hatte, gab es keinen einleuchtenden Grund, daß der scharfe Flaschenhals genau dort traf.
    Er spürte einige schnelle Doppelschläge seines Herzens. Erst jetzt dachte er an die Möglichkeit, daß es ein Selbstmordversuch gewesen sein könnte, in aller Öffentlichkeit, ein sogenannter Schrei der Verzweiflung, wie eben manche, die sich das Leben nehmen, Zeugen dabeihaben wollen, wenn das auch äußerst selten der Fall war. Trotzdem war es denkbar, daß Line so funktionierte. Wie er diese Ausdrucksweise haßte, obwohl er sie oft selbst benutzte! Funktionieren. Als wollte man Menschen zu Gegenständen machen. Ein Selbstmörder war keineswegs ein Gegenstand. Das Schlimme an diesen Überlegungen war, daß direkt vor einem Selbstmord häufig ein besonderes Ereignis stand. Gerade weil Line an diesem Abend mit den Vestkantpakistani ihre erste Choreographie gezeigt hatte, war es vorstellbar, daß sie, falls sie sich in einer destruktiven oder depressiven Phase befand, in den Stunden danach etwas Dramatisches einfallen ließ. Vielleicht erlebte sie diesen sogenannten Absacker als ebenso absurd wie er selbst. Ein akutes Gefühl der Verzweiflung! Ein plötzliches

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