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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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tat so, als sei sie selbständig, als sei sie erwachsen. Aber mit ihren hochfliegenden Plänen und ohne selbstverdientes Geld war sie noch mehr von ihren Eltern abhängig als Annika. Und das war ein beunruhigender Gedanke. Was sollte aus ihr werden, wenn er sterben würde. Obwohl man mit sechzig Jahren nicht mehr jung war, wäre es schrecklich zu sterben, wenn die Kinder nicht auf eigenen Füßen stehen.
    Ihm fiel die junge Mutter ein, die während seiner Zeit als Assistenzarzt an Krebs starb, als er Dienst hatte. Er wußte nicht viel von ihr, nur, daß sie noch keine vierzig Jahre alt war und daß sie drei Kinder hatte. Aus irgendeinem Grund hatte man ihr keine schmerzstillenden Mittel gegeben, und sie schrie und schrie, teilweise aus Todesangst, aber auch verzweifelt darüber, nicht mehr heim zu ihren Kindern zu können und allein im Krankenhaus sterben zu müssen.
    Sie hatte ihn gebeten, ihren Mann anzurufen, sie wollte in dieser Nacht ihn und die Kinder um sich haben, aber als er anrief und dem Mann mitteilte, daß seine Frau im Bett sitze und schreie, antwortete er: »Dann stirbt sie heute nacht nicht.«
    Aber genau das tat sie. Sie starb zwei Stunden später, schreiend, mit schreckgeweiteten Augen. Und er hielt ihre Hand und log sie schamlos an, erzählte, daß ihr Mann und die Kinder auf dem Weg zu ihr seien, daß sie keine Angst haben müsse. Den Todesaugenblick würde er nie vergessen, als sie seine Hand losließ und nach etwas in der Luft griff. Er würde nie vergessen, wie kurz der Weg ist vom lebenden zum toten Menschen. Es waren die Augen der Frau, die er in Erinnerung behielt. Die Grausamkeit der Schöpfung, ein lebendes Wesen, das sich in Sekunden in einen Leichnam verwandelte. Äußerlich blieb die Form erhalten, ihre Schönheit, fast auch die Hautfarbe, bis sie in die Kapelle überführt wurde. Der Schweiß, der in ihrem schönen blonden Haar klebte. Das Gesicht, das gezeichnet war von Trauer und Verzweiflung. Das würde man weder mit Waschen noch mit Schminken auslöschen können.Als hätte sie in der Todessekunde an ein Fenster geklopft in dem Gefühl, daß sie allein und in großer Gefahr war, in der Hoffnung, daß da auf der anderen Seite jemand war, der sie retten würde. Doch das war nicht der Fall, da war nur seine hilflose Hand. Hätte er sie in den Arm nehmen können, als sei sie sein Kind. Aber das war sie nicht. Sie war mündiger als er, war älter als er und trotzdem so jung. Viel zu jung, um zu sterben.
    Was ist das für eine dumme Ausdrucksweise. Viel zu jung? Als könne man mit dem Tod handeln, um Fristverlängerung bitten wie auf der Bank, die Tilgungsrate verschieben bis zur Pleite, beschwerdefrei sein und nur die Zinsen bezahlen. Und dann kamen am nächsten Morgen der Mann und die Kinder. Da war sie noch im Einzelzimmer. Drei Mädchen warfen sich über den Leichnam auf dem Bett, griffen nach der Hand, umarmten sie, versuchten sogar, sie aufzuwecken, während der Papa hinter ihnen stand und hemmungslos weinte. Thomas Brenner konnte sich nicht erinnern, etwas Schlimmeres erlebt zu haben.
    Und warum dachte er jetzt daran, während seine Tochter auf der Bühne tanzte? War es der Knoten in Elisabeths Brust, der dieses Untergangsgefühl hervorrief? War es der Gedanke an seine Mutter und was sie erwartete? Er wußte es nicht. Er saß nur da in dem abgedunkelten Saal und versuchte sich auf den Tanz zu konzentrieren, die explodierenden, lebensbejahenden Bewegungen, die ein Muster bildeten, das ihm nur manchmal gefiel.
    Nachdem die verschiedenen Auftritte vorbei waren, dachte er, daß Line bei weitem nicht die schlechteste gewesen war. Keineswegs. Sie war außerdem die einzige, die sich Unterstützung von außerhalb geholt hatte. Sich mit Karpe Diem zu verbünden war ein Geniestreich gewesen. Thomas würde ihr »meine Sta-ha-hadt« bis an sein Lebensende in Erinnerung behalten. Und die dusslige Frauenstimme im Holmenkoll-Slang mit ihrem ständigen »Wo wohnste nu?«, während der Tanz auf der Bühne olympische Höhen erreichte. So wünschte er sich seine Line: offensiv und selbständig, voller Lebensfreude.
    Das Paradoxe der Elternrolle war ja, daß man mit jeder möglichen Fürsorge, die man den Kindern angedeihen ließ, sie so weit bringen wollte, daß sie keine mehr brauchten. Die größte Befreiung, das eigentliche Ziel, bestand also darin, nicht mehr gebraucht zu werden. Nach jahrelangen Bemühungen, bestimmt nur von dem einen Wunsch, allumfassend sichtbar zu sein, wollte man, ab einem

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