Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Erkennen der eigenen Situation. Dieser entsetzliche Augenblick existentieller Angst. Wie bei Annika, wenn sie mitten in der Nacht erwachte und zu weinen anfing, tief und trostlos, wenn alles nur schrecklich erschien, wenn alle, die sie liebte, tot waren und sie in einer fremden Welt, wo sie keiner kannte, keiner sich um sie kümmerte, allein übrigblieb. Dieser Tag war eben vergangen.
Er und Elisabeth hatten vor kurzem einen Roman von Joan Didion gelesen, in dem Didion den Tod ihres Mannes John Gregory Dunne beschreibt. Sie waren von einem Krankenhausbesuch der todkranken Tochter Quintana nach Hause gekommen. Didion hatte Feuer im Kamin gemacht, hatte mit dem Kochen begonnen und John gefragt, ob er einen Drink wolle. Sie hatte ihm einen Whisky gebracht. Er saß am Kaminfeuer und las in einem Buch.
Dann setzten sie sich zu Tisch. Sie hatte den Salat gemischt. Dann hatte er geredet. Warum der Erste Weltkrieg das prägende Ereignis für das 20. Jahrhundert gewesen sei. Dann hatte er nichts mehr gesagt. Joan Didion hatte vom Teller aufgeblickt.
Sie hatte gesehen, daß er seine linke Hand in die Luft streckte, sich aber nicht bewegte. Sie hatte geglaubt, es sei ein schlechter Scherz, und gesagt: »Hör auf damit.« Dann kam die schlimmste Stelle. Sie hatte versucht, ihn aufzurichten. Sie hatte gedacht, ihm sei etwas im Hals steckengeblieben. Aber dann hatte sie das Gewicht gespürt, als er fiel, zuerst auf den Tisch, dann auf den Fußboden. Natürlich war er tot, hatte Thomas Brenner gedacht, als er es las. Herzkammerflimmern. Die gefährlichste Form. Der Weg vom Herzflimmern zum Herzkammerflimmern war nicht weit. Und er wußte zudem, daß einige Medikamente, die man gegen Vorkammerflimmern einsetzte, Herzkammerflimmern auslösen konnten. Annika hatte natürlich recht.Sie konnten tot sein, alle beide, ehe man sich versah. Aber das Schrecklichste, und darüber schrieb Didion nichts, war, daß auch die Tochter Quintana kurz darauf starb.
Alle zu verlieren. Ganz allein auf der Welt zu sein. War das Lines Absicht?
Sie war immerhin Annikas Schwester. In gewisser Weise dachten sie hier ganz ähnlich. Vielleicht steckte dieses tiefe, schmerzhafte, fast schluchzende Weinen, mit dem sie manchmal nach schlimmen Alpträumen wach wurden, immer noch in beiden Mädchen. Und gleichzeitig hatte er ein flaues Gefühl, wenn er sich vorstellte, daß er und Elisabeth so wichtig für das Leben der Töchter sein sollten. Vielleicht war es umgekehrt, daß sie im Grunde mehr Abstand wollten. Daß er für Line in diesem Moment eine Belastung war. Daß sie das mit der Schnittwunde am liebsten allein klären würde, aber nicht den Mut hatte, ihm das zu sagen, daß das ihr eigentlicher Wunsch war. Es ging ihr zutiefst auf die Nerven, wie sich die Fürsorgepersonen jahrelang gekümmert hatten, jahrelang mit dem Handy neben dem Bett geschlafen hatten und sich eigentlich nie entspannen konnten. Daß sie ihre Kinder in ihrem eigenen Netz aus Ängsten gefangen hatten, sich benommen hatten wie Monster, Gefühlsungeheuer, die mit ihrer Gesinnung zwei prachtvollen Töchtern die Flügel stutzten, die beide, bevor sie zerstört wurden, bereit waren, zu fliegen. Herrgott, er sah es ja oft in seiner Arztpraxis, wie Eltern und Kinder so schmerzhaft aneinandergebunden waren, wie die Mutter oder der Vater ihre eigenen Schwächen auf die Kinder übertrugen, Fettsucht, Angst, Arroganz, alles, was menschlich war.
Aber gerade das wollten sie, Annika und Line, fliegen! Thomas Brenner konnte nie vergessen, was er als Kind am Övreseter-See gesehen hatte, wie der unvorsichtige Mann mit dem ferngesteuerten Modellflugzeug im März mitten auf dem zugefrorenen See gestanden hatte, etwa um die Zeit der Skirennen am Holmenkollen, und das Eis für sicher gehalten hatte, dann aber eingebrochen und ertrunken war, während sein Modellflugzeug weiter Kapriolen in der Luft vollführte, bis es mit einem Knall abstürzte. Er erinnerte sich an das Bild in der Zeitung, das zerbrochene Flugzeug, das überdies direkt neben dem Loch im Eis zerschellt war.
Dieses Ereignis hatte den jungen Brenner tief beeindruckt. Erschütternd, wenn ein erwachsener Mensch, von dem man annimmt, daß er Vernunft hat, beim Spielen ums Leben kommt. Als sie Teenager waren, hatte er seine Töchter manchmal so gesehen, als ferngesteuerte Modellflugzeuge, froh und leicht oben in der Luft und vollkommen in Abhängigkeit von den erwachsenen Personen, die unten auf dünnem Eis standen, den Kurs
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