Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
den Jahren hatte sie ihn gehänselt wegen seiner Übervorsichtigkeit. Ein Charakterzug, den er von Bergljot hatte. Als Mutter war sie genauso, hysterisch ängstlich wegen des Autoverkehrs auf der engen Holmenkollstraße. Die andern in der Klasse durften überallhin mit dem Fahrrad fahren, bis Smestad. Nicht so die Brenner-Kinder.
Und obwohl ihn diese Ängstlichkeit sehr geärgert hatte, deutete er sie zugleich als Bestätigung dafür, daß ihn die Mutter liebte. Sie kümmerte sich um ihn. Das war nicht wie bei den Nachbarn, den Holtums, bei denen sich die Eltern nicht um die Kinder kümmerten. Als der Vater einmal den Sohn zu einem Abschlußfest in die Schule fahren mußte, kam er Minuten später zurück und mußte seine Frau fragen, in welche Schule der Junge ging. Thomas dachte später noch oft an diese Situation. Nicht zu wissen, in welche Schule die eigenen Kinder gehen. Er betrachtete das als eine Art Krankheit. Für solche Menschen empfand er nur Verachtung. Sie tauchten auch fast täglich bei ihm in der Praxis auf.
Ihm fiel die Mutter ein, die an diesem Tag bei ihm gewesen war. Hatte er richtig gehandelt, als er ihr das Schlafmittel verschrieb? Eigentlich konnte man dieser Frau nicht vertrauen. Genauso wie bei Line. Plötzlich konnte etwas passieren.
Er erinnerte sich an den Fall der kleinen Madeleine. Die portugiesische Polizei hatte vermutet, daß die Eltern der Kleinen ein Schlafmittel gegeben hatten, damit sie nicht aufwachte. So konnten die Eltern in das nahe gelegene Restaurant gehen. Die Polizei war davon ausgegangen, daß das Kind an einer Überdosis gestorben war. Aber die Eltern verlangten von aller Welt Mitleid. Es gab keine Grenzen für ihre Trauer. Sie besuchten sogar den Papst und gaben Pressekonferenzen. Sie weinten vor laufender Kamera. Ihr Ersuchen richtete sich an jedermann. Sie entlarvten sich ja direkt in ihrer Selbstbezogenheit! hatte Thomas Brenner gedacht. Sie sahen nur sich. Nur sie waren wichtig! Der Fall nahm bereits einen Tag nachdem das Mädchen aus dem Hotelzimmer verschwunden war, ungeheure Dimensionen an. Und so war es auch mit den Holtums. Sie erschienen nie zu gemeinsamen Veranstaltungen, luden nie die Brenner-Kinder ein, auch wenn sie in dieselbe Klasse wie ihre Kinder gingen. Sie beschränkten sich auf ihre kleine Holtum-Welt, schnitten die Holtum-Hecke und ernteten die Äpfel der Holtum-Bäume. Sie fuhren in ihrem Holtum-Auto und wanderten hinauf zur Holtum-Hütte. Die Mutter war eine Parodie auf die Gesellschaft am Holmenkollen. Als die Kinder noch klein waren, war sie ständig in den exklusiven Boutiquen Oslos unterwegs und kam mit immer neuen Kreationen nach Hause. Es hätte Thomas Brenner nicht gewundert, wenn sie es gewesen war, die seinerzeit die Davy-Crockett-Mützen eingeführt hatte.
Im Sommer veranstaltete sie mit den Frauen der Nachbarschaft Cocktailpartys im Garten. Bergljot Brennerwurde nie eingeladen, sicher deshalb, weil sie nicht so war wie die anderen. Sie zog nie einen Bikini an, setzte nie eine Davy-Crockett-Mütze auf. Sie trug im Winter nie hochhackige Schuhe. Sie war eine altmodische Frau aus Sandefjord, die bei Schnee feste Schuhe mit Profilsohlen anhatte. Und zu jeder Jahreszeit rief sie ohne perfektes Make-up die Kinder zum Essen. Als Thomas Brenner dann Elisabeth Dahl kennenlernte, war für ihn klar, daß die Dahl-Eltern zur Mittelschicht der eingebildeten Holmenkollen-Bewohner gehörten. Sie hoben sich nicht so deutlich ab, wie das bei seiner Mutter der Fall war, aber sie gehörten auch nicht zu den Schlimmsten. Sie hatten ein gewisses Sozialverhalten. Sie nahmen nicht an den Gartenpartys der anderen teil und waren nicht so selbstherrlich wie die Holtums.
Außerdem umgab Tulla eine Aura des Abenteuerlichen. Als eine der ersten Stewardessen war sie beinahe ein Filmstar. Die empathischen, sinnlichen Augen. Das Lächeln. Die Ausstrahlung als Stewardeß: Hier wollen wir feiern. Auf diesem Flug soll es uns gutgehen. Die türkisfarbene SAS-Uniform, die nach blonden Frauen wie Tulla Dahl rief. Sie war keine trippelnde italienische Primadonna. Sie war dazu geschaffen, mit Flugkapitänen und Stewardessen der ganzen Welt in Anchorage zu sitzen und den nächsten Ausflug zum Fuße des Mount McKinley zu planen. Sie war dazu geschaffen, mit Kollegen der Lufthansa in Bangkok Aquavit zu trinken. Sie roch sozusagen ständig nach Kaviar und Champagner. Wenn sie Thomas umarmte oder küßte, und das tat sie oft, wurden Klischees auf den Kopf gestellt. Nicht er
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