Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
bestimmten, aber jederzeit ertrinken konnten.
Thomas Brenner brachte seine Tochter zur Notaufnahme. Er hatte als junger Arzt hier gejobbt, um Geld zu verdienen. Er hatte die Kollegen immer bewundert. Sie arbeiteten ständig auf Hochtouren, flickten buchstäblich Menschen und Wirklichkeiten zusammen. In Oslo herrschte ja ein ziemlich hohes Aggressionsniveau. Während der Iraner Lines Schnitt nähte, hatten sie draußen auf dem Korridor Rufe gehört: »Du verdammter Rassist!« »Du Anfänger. Hast hier nichts zu suchen!« »Faß mich nicht an!« »Ich bin todkrank, kapiert?! Und dir ist das scheißegal!« Die Notaufnahme war ein Sammelbecken für all dieseAggressionen. Es arbeiteten dort nicht nur Norweger. Der Rassismus drang durch alle Wände, und Thomas ertappte sich dabei, daß ihn der forschende Blick des Iraners gestört hatte, weil er ein Iraner war. Als sei es nicht sein klares Recht, ihn, den Norweger, kritisch zu prüfen und das, was er gesagt hatte, in Zweifel zu ziehen.
Er merkte, daß sich Line umschaute. Sie kannte diese Gesellschaft von der anderen Seite. Sie war öfter unten in der Stadt, verkehrte mit Leuten, bei denen Konflikte entstanden. In seiner Arztpraxis entstanden keine Konflikte. Und wenn, dann war es die Ausnahme. Die vietnamesische Frau hinter dem Tresen lächelte müde und rief ihnen ein Taxi.
»Möchtest du nicht mit nach Hause kommen?« fragte er. »Das wäre für uns alle beruhigender.«
Line schüttelte den Kopf. »Ich schlafe im Dahl-Haus immer so schlecht«, sagte sie und küßte den Vater entschuldigend auf die Wange.
»Ich bringe dich jedenfalls in deine Wohnung, helfe dir, nach dem Fest aufzuräumen.«
Sie nickte dankbar. Er fühlte sich sehr unsicher, als er die Tochter ansah. Kannte er sie? Wußte er eigentlich, was sich hinter der Stirn und dem jungen, anmutigen Gesicht verbarg, bei dessen Anblick er nach wie vor nicht verstand, daß sich nicht alle Welt in sie verliebte? Warum schlief sie schlecht im Dahl-Haus? Das hatte sie noch nie gesagt. Inzwischen übernachtete sie äußerst selten dort. Vielleicht steckte eine Kindheitserinnerung dahinter. Vielleicht hatte sie die ganze Kindheit schlecht geschlafen, wach gelegen, ohne daß sie es merkten? Lag es an ihren Schlafproblemen, daß sie psychisch instabil war? Dann müßte ja Annika ebenfalls darunter leiden.
Sie setzten sich ins Taxi. Der pakistanische Fahrer roch intensiv nach Schweiß, und der Wagen hatte die Ausdünstung eines ungewaschenen Körpers. Herrgott, wurde er jetzt auch zum Rassisten? dachte er.
Sie fuhren zum Parkveien. Line lehnte sich an die Nackenstütze am Rücksitz.
»Wie fühlst du dich?« fragte er und drückte kurz ihre Hand.
»Gut. Das Ganze war wirklich eine dumme Ungeschicklichkeit.«
Sie schielte hinauf zu ihm. Dann schloß sie die Augen wieder.
»Da mache ich mir eher Sorgen um Mama«, sagte sie.
»Mama?«
»Ja«, sagte sie und nickte mehr für sich. »Sie sieht nicht ganz fit aus.«
»Nicht fit? Wie meinst du das? Sieht Mama nicht fit aus?«
Er hörte seine Stimme, und es fehlte nicht viel zu einem hysterischen Ton, deshalb versuchte er, sich zu beruhigen.
»Mit ihrem Gesicht ist etwas. Und ihr Blick. Sie ist früher nicht so gewesen.«
In seinem Magen verknotete sich etwas, als sie das sagte. Er hatte das Gefühl, sich bei nächster Gelegenheit übergeben zu müssen. Auf was wollte ihn Line aufmerksam machen? Auf etwas, das ihm nicht aufgefallen war? Diese Mädchen hatten eine besondere Beobachtungsgabe. Dabei war es untypisch für Line, über Probleme zu reden.
»Das ist mir nicht aufgefallen«, sagte er. »Ich habe nicht darüber nachgedacht.«
»Schon in Ordnung, Papa«, sagte sie und lächelte mit offenen Augen. »Vielleicht irre ich mich ja.«
Aber was sie gesagt hatte, setzte sich fest. Er würde esnicht loswerden. Der Gedanke, Elisabeth könnte etwas fehlen, war nicht zu ertragen. Die Angst vor einem plötzlichen unersetzlichen Verlust war typisch für diese übersensible Familie. Obwohl, Elisabeth hatte nicht solche Vorbehalte wie die Töchter. Vielleicht, weil Elisabeth stärker war. Sie hatte die Mädchen aufgezogen, besser als er dazu fähig gewesen wäre. Jedenfalls empfand er das so.
Er war immer voller Panik, wenn sie auf den zugefrorenen Tryvannsee gingen, aber Elisabeth erlaubte es den Mädchen. Er hatte Panik, sie könnten sich beim Schlittschuhlaufen den Hals brechen. Aber Elisabeth war in rasender Geschwindigkeit mit ihnen übers Eis gefahren. In all
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