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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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war der Traum der Schwiegermutter. Sie war es, die den Schwiegersohn erotisch reizte.
    Er dachte manchmal an sie in Situationen, in denen er nur an Elisabeth hätte denken sollen. Sogar am Ende ihreslangen Lebens hörte Tulla Dahl nicht auf, andere Männer zu lieben. Sie hatte die ganze Welt gesehen und ihre Abenteuer gehabt, und ihr Mann Kaare hatte am Fenster der Bibliothek gesessen und sie bewundert, egal was sie anstellte. Sie war damals immer noch auf Langstreckenflügen unterwegs. Und oft brachte sie dem jungen Liebespaar Champagner und Schokolade mit. Elisabeth fand das eher peinlich, aber Thomas war begeistert.
     
    Vor dem Wohnblock im Parkveien half er seiner Tochter aus dem Taxi. Er merkte, daß sie müde war, daß die überschäumende Energie des Abends verschwunden war. Als er ihr wieder den Arm um die Schulter legte, ließ sie ihren Kopf auf seinen Arm sinken. Sie nahmen den Aufzug hinauf zur Wohnung. Sie schloß auf. Es war dunkel.
    Als Line das Licht anknipste, sah er, daß Elisabeth und Annika aufgeräumt hatten, die Gläser waren gespült und die Chips mit Folie bedeckt auf die Anrichte gestellt. Er dachte, daß Elisabeth hätte anrufen können, um zu hören, wie es gegangen war. Aber so war sie nicht. Sie ging in solchen Fällen eher pragmatisch vor. Das hieß nicht, daß sie gleichgültig war. Sie verließ sich einfach auf ihn, ging davon aus, daß er sie anrufen würde, wenn ein Problem entstand. Wahrscheinlich hätte Annika gerne angerufen, aber Elisabeth hatte ihr sicher davon abgeraten.
    Er blickte sich um. Es machte ihn traurig, daß Line überhaupt nichts Persönliches in der Wohnung hatte. Es waren die gleichen Möbel, wie sie in der Werbung angeboten wurden. Als seien diese jungen Leute unfähig, so etwas wie eine persönliche Note zu finden. Er dachte daran, wie es in seiner Jugend gewesen war. Damals strich man die Wände knallblau, rosa, dunkelbraun und grün. Man hängte riesige japanische Papierballons auf unddurchstöberte die Ecke mit den billigen Restposten bei IKEA . Dort war immer etwas zu holen. Sogar die Jugend vom Holmenkoll kaufte damals bei IKEA ein. Eine überraschende und plötzliche Aufhebung der Klassenunterschiede. Aber nur für eine Weile. Das Verbindende war in erster Linie die Musik. The Doors hörte man am reichen Holmenkoll-Hügel ebenso wie im ärmlichen Stadtteil Stovner. Man saß unter den Papierlampen, die es überall in der Stadt gab, und hörte die Beatles, die Rolling Stones und die Kinks. Man strich eine Wand in einer schrillen Farbe und drehte sich einen Joint. Man trank Rotwein aus schweren Keramikbechern, die von Blei verseucht waren. Man backte riesige Apfelkuchen und kochte Eintopfgerichte. Man studierte und führte hitzige Diskussionen über Politik.
    Alles war sehr sinnlich, dachte Thomas Brenner. Und jetzt lebte Line ihr Leben in diesem Katalogzimmer. Als interessiere es sie nicht, ihre Umgebung freundlich zu gestalten. Nur dieser dumme Cava und die erbärmlichen Chips. Er merkte verärgert, daß er trotzdem Lust auf Cava verspürte, und er fragte Line, ob sie vielleicht noch eine Flasche davon im Kühlschrank habe. Er wollte sie nicht sofort wieder allein lassen. Vorher mußte er unbedingt noch von ihr erfahren, wie sie sich fühlte. Aber er sah, wie müde sie war, als sie den Kühlschrank öffnete und die sechs ungeöffneten Flaschen, die da lagen, herausholte. »Ich möchte auch noch etwas trinken«, sagte sie und gähnte. Mißmutig starrte sie auf den Verband an ihrem Handgelenk und gab dann ihrem Vater eine Flasche. Er nahm sie mit einem Gefühl der Beschämung.
    »Machst du dir Sorgen wegen Mama?« sagte er.
    »Du bist doch der Arzt«, antwortete sie.
    Sie setzten sich jeder auf einen der Barhocker am hohen Küchentisch. Thomas Brenner verstand diesen Drang, hoch sitzen zu wollen, nicht. Saß Line wirklich jeden Morgen hier beim Frühstück? Und bei den anderen Mahlzeiten? Mutterseelenallein?
    Er musterte sie, fand in ihren Zügen Ähnlichkeiten mit Elisabeth, aber auch sehr viel Ähnlichkeiten mit ihm, und das beunruhigte ihn. Er war seinem ganzen Wesen nach ein Falschspieler, dachte er. Er hatte nichts von der Autorität, die er gewöhnlich nach außen zeigte.
    Aber die Gesellschaft verlangte selbstsichere Ärzte, kategorische Ärzte, und wenn sie unsicher waren und ab und zu Fehler machten, prangerte man sie in der Presse an, und davor hatte er Angst. Genau dieses Überdiagnostizieren war Elisabeths Thema. Deshalb hatte sie davon

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