Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
hob eine Hand, graubleich und mit deutlich sichtbaren Adern, und sagte: »Ich habe sicher meine Sonnenbrille vergessen.«
»Ich werde sie dir holen«, sagte Thomas. »Mach dir keine Gedanken.«
Schweigend fuhren sie bis Majorstuen.
Sie hat kein einziges Mal zurückgeschaut, dachte Thomas.
»Sind Sie für meine Mutter die entscheidende Kontaktperson?« fragte er Leila.
Sie nickte. »Keine Sorge. Ich werde gut auf sie aufpassen.«
Man hörte ein Schnauben auf dem Beifahrersitz. Thomas wagte die Mutter nicht zu fragen, was sie damit meinte. Vielleicht war es Zufall. Er spürte wieder sein Herz, den irrsinnigen wellenartigen Rhythmus, und dachte daran, daß Elisabeth jetzt mit ihrer Mutter unterwegs war. Wollten sie nicht zum Friseur?
Er hätte sie jetzt gerne neben sich im Auto gehabt und bereute es, diese Aufgabe allein übernommen zu haben. Er betrachtete seine Mutter und konnte sich nicht vorstellen,wie sie ihre Tage im Pflegeheim ohne Gordon ausfüllen sollte. Sie hatten immer miteinander reden können, über das, was in der Zeitung stand, über Bücher, die sie gelesen hatten, über ein Musikstück, das sie im Radio gehört hatten.
Aber beide hatten aufgehört, Bücher zu lesen und Musik zu hören. Sie schoben es darauf, daß sie schlechter sahen und hörten. Sie weigerten sich aber, zum Arzt zu gehen, wenn er sie dazu aufforderte. Als wollten sie verfallen, rein physisch. Das überraschte und irritierte ihn. Und nach mehreren vergeblichen Versuchen, sie zu überreden, gab er auf.
An der Majorstuen-Kreuzung bogen sie ab zum Pflegeheim. Er schüttelte sich, zu gut kannte er dieses Pflegeheim, einige seiner Patienten hatten es geschafft, sich auch hier von ihm versorgen zu lassen, sie vertrauten keinem anderen Arzt. Von außen sah das Gebäude neu aus, aber kaum hatte man einen Fuß hineingesetzt, merkte man, wie heruntergekommen alles war. Der Geruch nach aufgewärmtem Essen und frischem Urin. Das bedrückende Gefühl, das einen bis in die Zimmer verfolgte. Und trotzdem war das hier gewissermaßen das pure Luxushotel, in das Thomas Brenner seine Mutter an diesem Tag brachte, verglichen mit dem, was Elisabeth in Murmansk gesehen hatte. Aber alte Menschen sind alte Menschen, egal wo auf der Welt. Es war ein Wunder, daß weder Elisabeths Eltern noch seine irgendwelche Anzeichen von Verwirrtheit zeigten. Immer noch wußten sie, wer sie waren, wo sie sich befanden und zu welcher Zeit.
Merkwürdigerweise war es Tulla, die lebendigste und aufgeweckteste von ihnen, die zur Vergeßlichkeit neigte, die die Namen der Enkel durcheinanderbrachte, die nichtmehr wußte, daß sie vor einigen Jahren mit Kaare auf einer Kulturreise in Südafrika gewesen war. Das waren kleine, aber besorgniserregende Signale, für die es, wie Thomas wußte, nur die eine Prognose gab: Es würde schlechter und schlechter werden.
Bergljot hatte bisher keinerlei derartige Tendenzen gezeigt. Deshalb war es besonders schlimm für ihn, sich vorzustellen, mit wem sie ab jetzt in den kleinen Speiseräumen zusammensitzen würde, die den Bewohnern des Pflegeheims zur Verfügung standen, wenn sie sich nicht das Essen ins eigene Zimmer bringen ließen, Frauen und Männer, die jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatten, die rastlos auf den Korridoren auf und ab liefen und nach Mama riefen, die ihn am Revers packten und flehentlich darum baten, ihnen den Weg zur nächsten Bushaltestelle zu erklären. Beunruhigend viele dieser Menschen fühlten sich fremd, sehnten sich danach, heim zukommen, einen Ort der Ruhe zu finden. Er wagte nicht sich vorzustellen, wie er damit zurechtkommen würde, wenn Bergljot anfinge, durch die Gänge zu wandern und ihn anzuflehen, ihr zu helfen, zurück zum Holmenkollen zu kommen.
Hussein fuhr vor den Eingang des Pflegeheims. Thomas Brenner sprang aus dem Auto und öffnete der Mutter die Wagentür. Es würde schwierig sein, sie aus dem Sitz herauszuholen, so lächerlich tief wie diese Fahrzeuge waren. Er mußte vorsichtig sein und sie nicht zu fest am Arm packen. Nach dem letzten Bruch hatte man festgestellt, wie porös ihre Knochen waren. Es war nur eine Frage der Zeit, und sie würde sich bei einem Sturz etwas brechen, wenn sie nicht bereit war, den Rollator zu benutzen oder den Rollstuhl.
Sie jammerte, als er sie unter den Armen anfaßte und vorsichtig hochzog, während Leila ihre Beine über den unteren Türrahmen hob. Einen Augenblick baumelten ihre Beine wie bei einem Schulmädchen. Jetzt ging es darum, daß
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