Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
das wußte er, würde die Mutter freuen. Sie würde etwas haben, an das sie denken konnte, auf das man zurückkommen konnte. Wenn es den Kindern gutging, fehlte auch ihr nichts. So dachte sie. Deshalb sagte er es.
»Mutter, ich werde den Verdienstorden des Königs bekommen.«
Sofort ging ein Strahlen über ihr Gesicht. »Was du nicht sagst, Thomas. Das ist ja fantastisch!« Sie schaute ihn begeistert an. Er zuckte die Schultern.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, womit ich ihn verdient habe.«
Sie streichelte seine Hand. »Du? Du verdienst den besten Orden, du hast immer an andere gedacht.«
»Nicht so wie du«, sagte Thomas Brenner. »Für dich ist die Fürsorge ein Lebensprinzip. Du solltest diesen Orden bekommen!«
Bergljot Brenner lachte. »Dann müßten ihn viele von uns bekommen.«
Er nickte. Preise gingen oft an die falschen Personen. Warum mußte Ulrik Meidel überhaupt eine Auszeichnung bekommen, wenn auch in Silber? Bei der Ordensverleihung hatte er nachdrücklich demonstriert, was für ein Ekel er war. Orden und Auszeichnungen tendierten dazu, an solche Leute zu gehen, die diese Art von Anerkennung erwarteten. Er gehörte zu den Abweichlern, die nicht darauf vorbereitet waren. Egal. Wichtig war im Moment nur, daß es ihm mit der Ordensgeschichte leichterfallen würde, seine Mutter allein im Pflegeheim zurückzulassen. Zuerst sich hemmungslos selbst loben und dann verschwinden. Ihn schauderte. Aber nun war es gesagt. Dies war die richtige Stimmung, um sich zu verabschieden. Bergljot saß lächelnd in ihrem Lehnstuhl. Er schaute auf die Uhr. Bald war Mittagszeit. Alte Menschen, die ihr Leben lang um fünf oder sechs Uhr nachmittags ihre Hauptmahlzeit eingenommen hatten, mußten jetzt pünktlich um ein Uhr essen. Wer dachte sich so was aus? Ein Bürokrat, der entweder auf einem Bauernhof oder im Ausland groß geworden war und glaubte, daß man in Norwegen mitten am Tag warmes Essen zu sich nahm?
»Das Essen ist sicher gut hier«, sagte Thomas und küßte die Mutter auf die Stirn.
»Das glaube ich auch«, sagte die Mutter. Sie hatte schon lange aufgegeben, selbst zu kochen. Der Pflegedienst hatte im letzten Jahr für sie und Gordon das Essen gebracht. Vergessen waren die Kohlrouladen und die Bohnen- und Erbsengemüse, das gute Fleisch und die feinen Saucen.
»Ich gehe jetzt«, sagte Thomas. »Aber ich komme heute abend wieder.«
»Das brauchst du nicht, mein Junge.«
Aber er hatte das Gefühl, das tun zu müssen. Er wollte sehen, wie es ihr ging an ihrem ersten Abend. Beim Vater mußte er ebenfalls reinschauen. Da blieb ihm nichts anderes übrig.
»Danke, daß du immer an mich denkst«, sagte Bergljot Brenner plötzlich.
Er zuckte zusammen, erinnerte sich, daß sie das schon einmal gesagt hatte. Da war es ebenso überraschend gewesen.
»Das versteht sich doch von selbst«, sagte er liebevoll. Aber das traf nicht zu. Er dachte keineswegs immer an sie. Er dachte meistens an Elisabeth. Dann kamen die Töchter. Und danach erst die Mutter und der Vater, gleich verteilt. Und das wußte sie sicher auch. Sie war nicht dumm. Warum sagte sie es dann? Um sich selbst zu trösten oder um ihn auf listige Weise zu zwingen, es zu tun, weil sie wußte, daß ein solcher Satz bei ihm ein schlechtes Gewissen hervorrief?
Er schloß die Tür und hätte beinahe eine alte Dame mit Rollator über den Haufen gerannt, die verbittert vor sich hin murmelte: »Aber ich bin gar nicht hier. Ich bin doch nicht hier .«
Er hatte vergessen, daß er kein Auto hatte. So mußte er ohnehin noch mal zum Vater. Er ging hinunter zur Straßenbahn. Als er an der Haltestelle stand und wartete, merkte er, wie erschöpft er war. Wie lange dauerte der Anfall nun schon? Er zählte die Stunden. Dann fuhr die Bahn ein. Ihm blieb noch eine Stunde, bis er in der Praxis zurückerwartet wurde. Sogar an so einem ungewöhnlichen Tag wie diesem mußte der Zeitplan eingehalten werden. So war das Leben inzwischen, ein einziger Streß. Das war es, wogegen Elisabeth kämpfte. Man sollte im Hier und Jetztsein. Aber welches Hier und Jetzt? Mutter im Pflegeheim? Kammerflimmern? Er konnte daraus ohnehin kein positives Gefühl machen. Er hatte keine Kraft mehr, um das Positive und das Negative gegeneinander aufzurechnen. Alles vermischte sich zu einem einzigen Brei. Ihm war übel. Das beunruhigende Gefühl von Untergang, das ihn befiel, wenn er eine schlimme Diagnose stellen mußte oder wenn er sich Sorgen machte um Elisabeth oder die Töchter. Das
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