Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
machen, die Mutter zu besuchen. Wahrscheinlich würden sie erst in der Weihnachtszeit im Pflegeheim erscheinen und dann nur für eine oder zwei Stunden.
Sie schoben die Mutter im dritten Stock aus dem Aufzug.
»Hier bin ich schon gewesen«, sagte sie zu Thomas. »Åsta wohnte hier. Du wirst sehen, ich bekomme Åstas Zimmer«, sagte sie und schüttelte fast belustigt den Kopf.
Thomas versuchte sich zu erinnern, wer Åsta war, fand sie aber nicht in der Vielzahl von Bekannten, zu denen die Mutter und der Vater mit zunehmendem Alter Beziehungen hergestellt hatten. Diese Freundschaften beruhten auf Krankheiten. Je mehr jemand an einer Krankheit litt, um so öfter waren Bergljot und Gordon zur Stelle. Zeitweise wurde im Brenner-Haus über nichts anderes als Krankheiten gesprochen. Und die Mutter und der Vater hatten volles Mitgefühl gefordert. Für Menschen, die Thomas nicht kannte, die einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt oder Krebs hatten, das war abendelang Gesprächsthema. »Und stell dir vor, Thomas, sie konnten tatsächlich die Geschwulst in Frau Bergers Hals operieren.« Sie redeten mit einer Anteilnahme, als handelte es sich um ganz enge Freunde.
Aber je mehr Krankheitsbekanntschaften die Eltern machten, um so mehr wurde Thomas klar, wie wenige Freunde sie eigentlich hatten. Sie hatten füreinander gelebt, und Thomas wußte mit Sicherheit, daß es in ihrem Bekanntenkreis niemanden gab, der sie genauso aufmerksam und regelmäßig besuchen würde, wie sie es getan hatten. Sie hielten vor einem Zimmer an. Zeta öffnete die Tür. »Willkommen zu Haus, Frau Brenner.«
»Åstas Zimmer«, stellte die Mutter fest.
In diesem Zimmer war vor kurzem jemand gestorben oder hatte seine letzten Tage gelebt. Die Bilder waren abgenommen worden. Die Nägel steckten noch in der Wand, vor den Fenstern hingen die alten Gardinen.Das Linoleum war voller Flecken. Das Bad mit Dusche und Toilette war so eng, daß man sich kaum umdrehen konnte. Der Duschvorhang hing ungereinigt, wo er immer hing.
»Wann starb Åsta?« fragte Thomas.
»Ach, das ist schon lange her«, erwiderte die Mutter. »Seit sie starb, waren sicher schon viele hier drinnen.«
Das wollte er nicht kommentieren. Statt dessen warf er den beiden Altenpflegerinnen einen fragenden Blick zu. Wo sollte der Rollstuhl stehen?
»Wir setzen sie in Lehnstuhl dort«, sagte Zeta.
Sie verfrachteten die Mutter auf die einzige Sitzgelegenheit im Zimmer. Sie jammerte laut. Er dachte an die Verschütteten, die nach einem Erdbeben befreit wurden. Für eine Weile gehörte sie zu den Überlebenden.
Nachdem sie im Stuhl saß, nahmen sich die Frauen die Plastiktüten vor. Erst da wurde Thomas bewußt, unter welchem Zeitdruck sie standen. Diesen Einzug von Frau Brenner mußten sie zügig und schnell abwickeln.
Aber sie hängten die Kleidungsstücke der Mutter ebenso sorgfältig in den Schrank, wie er es getan haben würde. Und sie fragten, wo sie ihre Sachen haben wollte. Sie antwortete freundlich und deutete. Solange etwas um sie passierte, war sie wach und aufmerksam.
In zwei Minuten war alles erledigt. Leila schaute die Wände an, die hellen Flecken von den Bildern, die da gehangen hatten. »Frau Brenner möchte sicher das Zimmer so einrichten, wie sie möchte.«
Thomas sah, daß die Mutter nickte. »Das eilt nicht«, sagte sie. »Eins nach dem andern. Erst mal bin ich hier.«
Ja, bei Gott, sie war hier, dachte er. Bald würden die beiden Frauen und er dieses Zimmer verlassen. Sie würde allein zurückbleiben und die Wände anstarren. Und alsLeila und Zeta sich einige Minuten später zurückzogen, lächelnd und sich entschuldigend, um sich um andere Bewohner zu kümmern, nachdem sie ihr erklärt hatten, daß sie mit dem roten Knopf jederzeit Hilfe herbeirufen konnte, dachte Thomas Brenner, daß das zu trostlos war. Er konnte jetzt nicht einfach gehen. Er mußte sie auf irgendeine Weise aufmuntern. Sie mußte etwas Schönes haben, an das sie denken konnte.
Er überlegte zu sagen, daß Line und Annika bald einen Besuch machen würden, aber er hatte ja keinerlei Überblick über die Pläne der Töchter und unterließ es deshalb lieber, sie anzukündigen. Da fiel ihm der Verdienstorden ein. Nichts mochte Bergljot lieber, als zu wissen, daß es allen in der Familie gutging. Diese idiotische Idee von Mildred Låtefoss war also nicht so schlecht, um für etwas gut zu sein. Trotzdem widerstrebte es ihm, davon zu erzählen. Er war nicht für Selbstlob geschaffen. Aber diese Neuigkeit,
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