Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Überleg doch mal. Der erste Eindruck verändert sich nicht. Du warst doch auf genügend Klassenfesten, um das zu wissen? Einmal Ekel, immer Ekel.«
»Sprichst du jetzt von Elisabeth?«
»Natürlich nicht. Trotzdem bin ich nicht ganz blöd. In den Kreisen, in denen wir verkehrten und zu denen sie bald gehörte, als sie ein Auge auf dich geworfen hatte, galt sie als relativ versnobt. Sie wollte durchaus zeigen, daß sie in allem die fundiertere Meinung hatte. Als hätte sie in dem Punkt einen Komplex. Weißt du nicht mehr, wie kritisch ihre Geschmacksurteile waren? Mich jedenfalls verspottete sie, weil mir Kurt Vonnegut jr. gefiel. Ihr war er viel zu gewöhnlich. Später, als sie ihre Karriere als Schriftstellerin aufgab, dachte ich, daß es typisch für sie war, bei Telenor anzufangen. Was zum Teufel war Telenor damals? Sie hatte einfach das zwanghafte Bedürfnis, anders zu sein. Unberechenbar. The need to be special.«
»Jetzt bist du gemein, Mildred.«
»Nein, ich bin nicht gemein. Ich möchte nur, daß du dich nicht vollständig aufgibst. Sechzigster Geburtstag und Flug nach Chicago. Da ist dazwischen Platz genug für einen Verdienstorden. Aber dieses Chicago, ich begreife es nicht. Das ist doch genauso wie Hamar, Thomas!«
»Ich liebe Hamar«, sagte Thomas und fing an zu lachen. Er hatte immer eine Schwäche gehabt für Mildreds verbale Frechheiten. Es war sogar akzeptabel, daß sie ironisch über Elisabeth herzog, allerdings nur in vorsichtiger Dosierung.
»Ja, aber das ist das amerikanische Hamar. Läuten da nicht die Alarmglocken bei dir? Und ihr fliegt zu Beginn des Winters dorthin, wenn eisige Winde über den Lake Michigan fegen und man kaum aufrecht stehen kann.«
»Erstaunlich, wie gut du eine Stadt kennst, die du auf diese Weise schlechtmachst«, sagte Thomas. »Aber duwirst mich nicht von dieser Reise abhalten. Meine Lust, hinzufliegen, wird nur größer.«
»Du bist hoffnungslos, Thomas. Und am schlimmsten ist, daß du es weißt.«
Sie lachten beide. So hatten sie einander gehänselt, als sie jung waren. Warum hatten sie an dieser Freundschaft im späteren Leben nicht festgehalten? dachte er. Weil da trotzdem zu viele starke Gefühle zwischen ihnen bestanden? Sie hatte ja mit ihren kleinen Aufmerksamkeiten und den Postkarten den Kontakt zu ihm aufrechterhalten. Aber er reagierte darauf nur unwillig. Wenn er einen langen Weihnachtsbrief von ihr erhielt, schickte er spät im Januar eine Karte mit irgendeinem witzigen Motiv. Und das, obwohl er wußte, daß Elisabeth nicht eifersüchtig war, nie auf Mildred Låtefoss eifersüchtig sein würde. Sie dachte nicht in diesen Bahnen. Als bestünde für sie im tiefsten Innern nicht der geringste Zweifel, daß sie für ihren Mann immer die erste Wahl sein würde. Ja, dachte Thomas Brenner, Elisabeth zeigte nur selten Zweifel, während er immer mehr von Zweifeln geplagt wurde. Und jetzt saß er am Telefon, und Zweifel stiegen in ihm auf, ob er es nicht versäumt hatte, über die Familie hinaus einen Freundeskreis zu haben. Wäre das für ihn nicht eine Bereicherung gewesen? War er nicht im Grunde unterernährt, was solche Gespräche betraf, wie er sie im Moment mit Mildred Låtefoss führte? Wie viele Menschen gab es, bei denen er eine Menge Kraft und Zeit aufgewendet hatte, sie zu meiden . Klassenkameraden aus der Kindheit. Kollegen, die ihm begeistert entgegengekommen waren und ihn eingeladen hatten zum Essen, zur Elchjagd, zum Angeln, zu Herrenabenden. Er hätte jede Menge Freunde haben können, die ihm jetzt eine Hilfe gewesen wären, die ihn aus diesem Denkmuster befreit hätten, das ihn von Jahr zuJahr mehr in einen bekümmerten Menschen verwandelte, einen Familienvater, für den die Familie das Hauptanliegen war, der genausoviel Zeit und Kraft auf seine nächsten Angehörigen verwendete wie ein Vater von kleinen Kindern. Und deshalb mußte er ständig so viele Menschen meiden. Höflich entgleiten, wie Elisabeth gerne sagte. Wie Seife. Obwohl er gar keine glatte Person sein wollte. Nicht in dieser Hinsicht. All die Menschen, die er abgewiesen hatte im Lauf der Jahre, hatten ihn inzwischen aufgegeben. Die früher so häufigen Einladungen zu Herrentreffen oder Rebhuhnessen in der Norske Selskap kamen nicht mehr. Der Inhalt des Briefkastens wurde immer magerer. Elisabeth dagegen pflegte die Geselligkeit und hatte nach wie vor einen großen Freundeskreis. Deswegen hatte sie schließlich eingewilligt, ihren sechzigsten Geburtstag richtig zu feiern. Sie
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